Die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen: Der passende Stammzellenspender

Die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen: Der passende Stammzellenspender

Wenn im Zentrum für Transfusionsmedizin und Hämotherapie am UKGM Gießen zwei Menschen „gematcht“ werden, geht es nicht etwa um eine Dating-App, es geht um Leben und Tod. „Wir sprechen von einem ‚Match‘, wenn die Sucheinheit für einen Blutkrebspatienten einen potenziellen Stammzellenspender gefunden hat“, erklärt Katja Müller und deutet dabei auf den Computerbildschirm in ihrem kleinen Büro. Darauf zu sehen sind zwei Kennnummern – eine für den Spender und eine für den Patienten – sowie zwei Tabellen mit Zahlen und Buchstabenkombinationen. Sind sie identisch, dann haben sich zwei gefunden – ein Sterbenskranker und sein potenzieller Lebensretter.

Katja Müller ist Medizintechnische Assistentin und Leitung des Gewebetypisierungslabores, das eine hauseigene Knochenmark- und Blutstammzellspenderdatei sowie eine Sucheinheit zum Aufspüren passender Stammzellenspender betreibt. Die gelernte Biologielaborantin sucht dabei die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen: Im besten Fall liegt die Wahrscheinlichkeit für ein „Match“ bei 1:300, im schlimmsten Fall gibt es für einen Patienten weltweit keinen einzigen kompatiblen Spender.

Katja Müller und ihre Kolleginnen Marion Ernst-Schlegel, Christina Lang und Mirijam Weiß sind dennoch positiv gestimmt. Denn die Knochenmarkspenderdatei am UKGM wächst stetig – und damit wachsen auch die Chancen, passende Spender zu finden. Momentan kann durchschnittlich einmal im Monat eine Spende realisiert werden. Rund 10.000 Menschen haben sich registriert, seit die Datei Mitte der 90er Jahre aufgebaut wurde. Doch wieso braucht es überhaupt eine hauseigene Datei, wenn es die Deutsche Knochenmarkspende (DKMS) mit mehr als sechs Millionen registrierten Spendern gibt?

„Die Gewebemerkmale unserer Spender werden, so wie die der DKMS, in ein zentrales Register eingespeist“, erklärt Dr. Sandra Wienzek-Lischka, die das vierköpfige Team der Knochenmarkspenderdatei sowie das Labor für Gewebetypisierung leitet. „Unser großer Vorteil liegt aber darin, dass wir die Stammzellenspenderregistrierung an die Blutspende koppeln.“ Das heißt, jeder, der am UKGM Blut spendet, wird darauf hingewiesen, dass er sich als Stammzellspender registrieren kann. „So können wir direkt sicher sein, dass der Spender keine Angst vor Nadeln hat und bereits mit der Blutspende klarkommt. Wer sich nur mit einem Abstrich per Wattestäbchen registriert, weiß im Zweifel nicht, was auf ihn zukommt“, erläutert Wienzek-Lischka. Ein weiterer Pluspunkt: Da die Stammzellenspender des UKGM gleich auch eine Blut- statt nur eine Speichelprobe abgeben, liegen mehr medizinische Daten über sie vor. Je mehr Daten es gibt, desto genauer kann vorhergesagt werden, wie gut ein Spender passt. Daher wird gern auf unsere Datei zurückgegriffen.

Die Suche

Aber woran erkennt man überhaupt, ob ein Spender passt? Um das zu verstehen, muss man von dem kleinen Büro mit dem Computer voller Daten ein paar Räume weitergehen: ins Labor. Zwischen Neonröhren und Linoleumboden finden sich hier Kühl- und Gefrierschränke verschiedener Größen, in denen tausende Plastikröhrchen mit Flüssigkeiten lagern: Blutproben über Blutproben. Auf den Arbeitsflächen steht eine Reihe technischer Geräte. Eines gleicht einem herkömmlichen Bürokopierer, ein anderes erinnert an eine Mikrowelle. Es sieht reichlich unspektakulär aus, dafür, dass hier der Code des Lebens geknackt wird: die DNA. Jeweils die DNA von Patienten und Spendern wird auf ganz bestimmte Merkmale hin analysiert: die Merkmale auf der Zelloberfläche. „Die DNA kann man sich vorstellen wie ein dickes Buch“, erklärt Wienzek-Lischka. „Alle unsere individuellen Merkmale haben eine eigene Seite, die Haarfarbe, die Größe und eben auch die sogenannten HLA oder Gewebemerkmale, die die Oberfläche unserer Zellen beschreiben.“ Bei der Stammzellenspende müssen zwei Menschen gefunden werden, deren Zelloberfläche möglichst identisch aufgebaut ist. Das heißt genauer: Zehn der zehn wichtigsten Gewebemerkmale müssen bei beiden übereinstimmen. „Nur dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Körper die Stammzellen nach der Transfusion nicht als fremd erkennt und keine Abwehrreaktion startet“, so die Transfusionsmedizinerin.

Doch bis das Team aus einer Blutprobe die Gewebemerkmale typisiert und die Daten ins Spenderregister eingetragen hat, dauert es eine Weile. Die Blutprobe wandert von Gerät zu Gerät und wird dabei immer kleinteiliger. Erst wird die DNA isoliert, dann der Teil der DNA, auf dem die Gewebemerkmale beschrieben sind, vervielfältigt, mehrfach aufbereitet und schließlich über Nacht ausgelesen. Übrig bleibt ein Bild: Eine Art Graph mit Höhen und Tiefen, einzelne Stellen sind mit Strichen markiert, die Striche mit Kombinationen aus den Buchstaben A, C, G, T beschriftet. Der „genetische Fingerabdruck“ der Gewebemerkmale. Er lässt sich auch in einer Tabelle darstellen. Jene Tabelle, die MTA Katja Müller bei einem „Match“ auf ihrem Computer sieht.

Die DNA kann man sich vorstellen wie ein dickes Buch

„Dieser ganze Prozess der Typisierung ist heute schon Hochgeschwindigkeit“, erklärt Marion Ernst-Schlegel. Allein das Isolieren der DNA aus dem Blut kostete früher einen halben Tag, heute dauert es gerade mal 23 Minuten. „Bis vor ein paar Jahren mussten wir alles in dutzenden Schritten händisch erledigen“, so die MTA.

Zwei gleiche zu finden, das ist die besagte Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Sie erfolgt am UKGM in enger Kooperation mit den Ärzten. Benötigt ein Patient in Gießen oder Marburg eine Stammzellen-Transplantation, erhält das Team der Sucheinheit genaue Informationen: Welche Erkrankung hat der Patient? Wie ist sein aktueller Zustand? Wie ist die Transplantation geplant? Jährlich gehen vom UKGM etwa 90 Suchanfragen nach Spendern heraus, deutschlandweit sind es rund 10.000.

Die Spende

Eine erfolgreiche Suche ist Katja Müller dabei ganz besonders im Gedächtnis geblieben. Warum? Sie hatte nicht nach einem Spender gesucht, sondern wurde selbst als Spenderin „gematcht“. Müller sagte damals sofort zu: „Wenn jemand durch meine Stammzellenspende eine neue Chance auf Überleben hat, gibt es für mich – allein aus moralischer Sicht – kein Zurück.“ Ob sie Angst hatte? Ja, aber die Freude, helfen zu können, sei größer gewesen. Unterschätzt habe sie nur die Vorbereitung zur Spende. Vier Tage lang müssen sich die Spender dabei jeden Tag ein- bis zweimal einen sogenannten Wachstumsfaktor spritzen. Er sorgt dafür, dass das Knochenmark Stammzellen freisetzt und in die Blutbahn abgibt. „Ich wusste ja, dass Schmerzen und grippeähnliche Symptome in dieser Phase normal sind. Trotzdem hat es mich belastet, ich hatte das Gefühl, jemand sitzt auf meiner Brust“, so die heute 43-Jährige. Die Spende an sich war dagegen ein Kinderspiel. Nicht schmerzhaft, nur etwas langweilig. Fünf Stunden war Müller an das Apherese-Gerät angeschlossen, eine Art Waschmaschine, die die Stammzellen aus dem Blut filtert. In jeder Armbeuge eine Nadel mit Schlauch, bewegen ging nicht. Doch nach der Spende bleiben zwei wertvolle Dinge: ein Beutel mit knapp 350 Milliliter reinen Stammzellen und ein gutes Gefühl. „Man gibt wenig und kann viel bewirken“, so beschreibt es Müller. Ihr „Match“ hat einem Patienten kostbare Lebenszeit geschenkt.

Registrieren auch Sie sich
als Spender für die Knochenmarkspenderdatei des UKGM! Informationen unter: hla.labor@uk-gm.de, Tel.  0641-985 41525

Ihre Expertin für Transfusionsmedizin:

Dr. Sandra Wienzek-Lischka
Oberärztin, Zentrum für Transfusionsmedizin und Hämotherapie am Universitätsklinikum Gießen und Marburg am Standort Gießen