Arzneimittel-Anamnese: Wie lückenlose Dokumentation im Klinikalltag Leben retten kann

Arzneimittel-Anamnese: Wie lückenlose Dokumentation im Klinikalltag Leben retten kann

Die Zahl ist alarmierend: Deutschlandweit sterben jährlich bis zu 30.000 Menschen an arzneimittelbezogenen Komplikationen, wie zum Beispiel Überdosierungen oder unerwünschten Wechselwirkungen von Präparaten.

„Pillen, diese kleinen weißen Stückchen, sehen meistens ziemlich harmlos aus“, sagt Dr. Grit Berger, Leitende Apothekerin der Zentralklinik Bad Berka. „Aber sind sie einmal geschluckt, kann man ihre Wirkung nur noch schwer unterdrücken. Das kann sehr gefährlich sein.“ Aus Erfahrung weiß die Expertin auch: Viele Menschen sind sich der Tragweite einer falschen Einnahme von Medikamenten nicht bewusst.

Ein sinnvolles Konzept, um derartige Probleme zu verhindern, ist die sogenannte Arzneimittel-Anamnese, für die Frau Dr. Berger Expertin ist. Die Mission ihres 6-köpfigen Apotheker-Teams beschreibt sie so: „Der richtige Patient bekommt zur richtigen Zeit das richtige Medikament in der richtigen Dosierung und in der richtigen Darreichungsform.“

Was einfach und logisch klingt, ist an vielen Kliniken leider noch immer die Ausnahme. In Bad Berka hingegen ist man dabei, das Konzept einer lückenlosen Dokumentation Jahr für Jahr weiter zu verfeinern und auf diese Weise dafür zu sorgen, dass Ärzt:innen entlastet und Patient:innen optimal versorgt werden.

Im Gespräch mit dem RHÖN-Gesundheitsblog berichtet Frau Dr. Berger über die Tücken von Medikationsplänen, ihre eigene Rolle als „Copilot der Ärzte“ im Klinikalltag und die Bedeutung von QR-Codes auf Medikamententütchen.

Frau Dr. Berger, warum ist die Einnahme von Medikamenten eigentlich solch ein Problem-Thema?

Dadurch, dass viele Patient:innen mehrere verschiedene Medikamente einnehmen, verlieren sie oftmals den Überblick. Gerade dann, wenn die Produkte häufig wechseln, immer wieder wechselnde Bezeichnungen tragen oder unterschiedlich verpackt sind. Die Folge ist, dass viele Menschen nicht mehr wissen, wann sie was einnehmen sollen. Da kann sehr schnell Chaos entstehen. Und das kann gefährlich sein.

Welche Rolle haben Sie – neben den Ärzten, die behandeln?

Wir in der Arzneimittelanamnese befinden uns direkt an der Schnittstelle zwischen der ambulanten und stationären Behandlung. Entsprechend wichtig ist für uns, dass wir den behandelnden Ärzt:innen genauestens mitteilen können, welche Medikamente die Patient:innen Zuhause eingenommen haben.

Helfen Ihnen da nicht die Medikationspläne?

Ja, die sind tatsächlich in vielleicht 70 Prozent der Fälle vorhanden. Allerdings bringen manche Patient:innen mehrere Pläne mit. Wir müssen dann herausfinden, welcher der richtige ist. Meistens ist keiner wirklich aktuell. Erschwerend kommt hinzu, dass viele sich über die verschreibungspflichtigen Medikamente hinaus noch freiverkäufliche aus der Apotheke dazukaufen. Da kann der Gesamtüberblick schnell verlorengehen.

Wo sehen Sie das Hauptproblem?

Viele dieser Medikamente haben ein hohes sogenanntes Interaktionspotenzial. Das heißt, dass sie in Zusammenhang mit bestimmten anderen Medikamenten oder Therapien unerwünschte Nebenwirkungen hervorrufen können.

Wie können Sie da gegensteuern?

Unsere Aufgabe ist es, Ordnung in das oftmals große Chaos zu bringen. Manche Patient:innen bringen ihre ganze Waschtasche mit und kippen ihre darin befindlichen Medikamente erst einmal auf unseren Tisch. Und oftmals liegen da ganz andere Dinge drin als die, die auf dem Medikationsplan stehen. Hier beginnt das, was ich oft als „Detektivarbeit“ bezeichne.

Was unterscheidet sie von einem Arzt, der die Medikamente verschreibt?

Als Pharmazeutin prüfe ich zum Beispiel, ob es für ein Blutdrucksenker-Medikament eine Indikation gibt und ob es in der richtigen Dosierung eingenommen wird. Und auch, ob weitere fachgebietsübergreifende Medikamente zu diesem Blutdrucksenker „passen“. Für eine derartig tiefgehende Auseinandersetzung ist in den meisten Praxen meiner Ansicht nach schlicht keine Zeit vorhanden. Unsere Aufgabe ist es auch, Ärzt:innen auf Problematiken hinsichtlich der Einnahme von Medikamenten aufmerksam zu  machen. Wir in der Klinikapotheke verstehen uns also als eine Art Copilot für den behandelnden Arzt.

Auf Station als CoPilot
Frau Dr. Berger im Gespräch mit den Kollegen auf Station in der Zentralklinik Bad Berka

Welches Hintergrundwissen braucht es da?

In der Klinischen Pharmazie beschäftigen wir uns mit den Arzneimitteln und ihrer richtigen Anwendung. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass wir wissen, welche chemischen Eigenschaften ein Wirkstoff hat und wie er im Körper eines Menschen wirkt. Also auch, wie er aufgenommen und wieder ausgeschieden wird. Wir kennen die zugelassen Indikationen und beraten zur Verordnungsfähigkeit. Das ist unser Job und unser Spezialgebiet. Und diesbezüglich stehen wir den behandelnden Ärzt:innen beratend zur Seite, um das für den Patienten optimale Behandlungsergebnis zu erreichen.

Das heißt, dass jedes in der Klinik verschriebene Medikament über Ihren Schreibtisch oder den Ihrer Kolleg:innen läuft?

So ist es. Kommt ein neuer Patient in die Klinik, besprechen wir mit ihm zunächst seinen Medikationsplan und überprüfen, ob er vollständig und richtig ist. Diese sogenannte Arzneimittelanamnese stellen wir den ärztlichen Kolleg:innen elektronisch zur Verfügung. Sobald eine Änderung der Medikation vorgenommen wird, checken wir als Apotheke diese wiederum auf Interaktionen. Hier geht es dann zum Beispiel darum, dass nicht teilbare Tabletten nicht künstlich geteilt werden sollten. Denn ansonsten könnte die Dosierung falsch sein.

Und wenn alles ok ist?

Wenn die Medikation in Ordnung ist, kommt unser Unit-Dose-Automat ins Spiel, der jedes Medikament für jede Einnahmezeit einzeln verpackt. Pro Jahr geben wir um die 1,5 Millionen dieser Tütchen aus. Auf jeder einzelnen sind Informationen über den Inhalt und die entsprechenden Einnahmehinweise aufgedruckt. Seit Neuestem sind sie zudem mit QR-Codes versehen, hinter denen sich der komplette Beipackzettel verbirgt. Sobald einem Patienten auf Station ein Medikament ausgehändigt wurde, wird das im System vermerkt. Damit erreichen wir die angestrebte sogenannte Closed Loop: eine lückenlose Dokumentation des gesamten Prozesses – von der ärztlichen Verordnung, über die Validierung durch uns, die Apotheker, bis zur Einnahme des Medikaments durch den Patienten.

Sind Sie mit dem Feedback der Ärzt:innen aus der Klinik zufrieden?

Die Informationen, die wir ihnen an die Hand geben, werden sehr geschätzt. Das merken wir sehr wohl. Durch unsere Hinweise können wir eine falsche Einnahme von Medikamenten weitestgehend ausschließen. Das ist wirklich ein ungeheurer Fortschritt und gibt nicht nur meinem Team und mir das Gefühl, dass das, was wir tun, wirklich sinnvoll ist.

 

Ihre Expertin für Arzneimittel
Dr. rer. nat. Grit Berger
Leitende Apothekerin an der Zentralklinik Bad Berka