Perspektivenwechsel: Wie das Exoskelett Querschnittgelähmten helfen kann

Perspektivenwechsel: Wie das Exoskelett Querschnittgelähmten helfen kann

Patienten von Lars Kettwig sind oftmals Menschen, die weder gehen noch stehen können. Und sie haben oft nur einen einzigen Wunsch: Endlich wieder aufrecht durchs Leben gehen! Modernste Technologie in Form des Exoskeletts kann ihnen mittlerweile helfen, die ersten Schritte zu machen. Was für seine Patienten und ihn selbst oft zu erhebenden Momenten führt, erzählt der Physiotherapeut, der in der Klinik für Paraplegiologie und Neuro-Urologie der Zentralklinik Bad Berka arbeitet, im Gespräch mit dem RHÖN-Gesundheitsblog.

„Ein Exoskelett”, erklärt Lars Kettwig, „ist ein anziehbares Außenskelett”. Mit diesem ist es insbesondere Patienten mit einer kompletten Querschnittlähmung, die nicht mehr gehen oder stehen können, wieder möglich, sich aufzurichten und Schritte zu wagen. „Auch Patienten mit einer sogenannten Beinrestfunktion können das Skelett nutzen und sich so aktiv am Gehen beteiligen”, sagt der Physiotherapeut. Das Gerät komplettiert dann quasi den Schritt. Wenn der Nutzer also etwa eine Eigenleistung von 30 Prozent habe, übernehme das Gerät die restlichen 70 Prozent, um den kompletten Schritt auszuführen.

Die Idee des Exoskeletts stammt eigentlich aus der Natur – bei Krebsen beispielsweise liegt das Skelett nicht innen sondern außen. Dieses Stützprinzip haben sich die Menschen abgeschaut und setzen es nun ein um Menschen zu helfen. In der Industrie als Unterstützung schwere Lasten zu tragen und in der Medizin als neues Therapiekonzept.

Eine wissenschaftliche Errungenschaft: Ein 27 Kilo schwerer, selbst tragender Roboteranzug

Die Version des Apparats, die im Querschnittgelähmten-Zentrum in Bad Berka steht, wiegt um die 27 Kilo, ist ein selbsttragendes System und wird von zwei Akkus betrieben, deren Leistung für bis zu drei Behandlungseinheiten ausreichen. 500 Mal pro Sekunde berechnet das Gerät das korrekte Gangmuster des fixierten Patienten – und passt jeden einzelnen Schritt, den dieser tut, individuell an. Hierfür sind in den Fußblöcken und in den Gelenken sensible Sensoren verbaut. Echte Hightech also.

Ärzte und Therapeuten prüfen genau, wer für diese Spezialbehandlung in Frage kommt. Voraussetzungen sind unter anderem, dass eine ausreichende Stützfunktion in den Armen vorhanden ist, Längen- und Breitenmaße im Normbereich liegen, und dass das Gewichtslimit nicht überschritten wird. Zudem muss der Patient eine gewisse Eigenständigkeit vorweisen, also zum Beispiel frei sitzen können.

Durch die „Exo-Therapie” können Schmerzen oder Spastiken reduziert werden. „Indem wir die Spastik reduzieren, können wir auch die Spastik-Medikation verringert”, sagt Kettwig. Solch eine Wirkung könne im besten Fall bis zu sechs Monate anhalten. Weitere positive Effekte können eine qualitative Verbesserung des Gangbildes bei bestehender Gehfähigkeit, eine Verbesserung der Blasen- und Darmfunktion, bessere Rumpfstabilität, eine höhere Gelenkbeweglichkeit und ein gestärktes Herz-Kreislauf-System sein. Es sind aber nicht nur die medizinische Effekte, die eine Rolle spielen, sondern auch der emotionale psychische Aspekt wirkt sich positiv auf die Lebensqualität der Patienten aus.

„Exo-Therapie” drei Mal pro Woche

Grundsätzlich gilt: Ist ein Patient, der sich gerade in der Akutphase befindet, als für die Behandlung mittels Exoskelett als geeignet befunden worden, bleibt er anschließend mindestens sechs bis acht Wochen länger in der Klinik – und bekommt neben Physiotherapie und anderen Therapieformen auch drei Mal wöchentlich die „Exo-Therapie”.

Es gibt allerdings auch Patienten, die ausschließlich nur für diese Therapieform zu einem stationären Aufenthalt ins Krankenhaus kommen. Diese werden dann einmal täglich behandelt, sagt Kettwig. Generell bedarf eine Querschnittlähmung einer lebenslangen Behandlung. Werden Bewegungen nicht regelmäßig trainiert, kann es zur Verschlechterungen der Gelenkbeweglichkeit, der bestehenden Muskelfunktionen, weiterführend zur Verminderung der Selbstständigkeit – und schlimmstenfalls zur Immobilität führen.

Und weil bei jeder sinnvollen Therapie auch die psychische Komponente eine Rolle spielt, sei es besonders wichtig, für jeden einzelnen Patienten klare Ziele zu definieren und ihm jeden einzelnen Schritt logisch zu erklären, sagt Lars Kettwig. Grundsätzlich stünden seine Patienten dem Exoskelett mit Respekt und verständlicherweise manchmal auch mit ein wenig Angst gegenüber. Die verschwinde aber meist ziemlich schnell.

Wenn plötzlich eine Träne fließt…

Besonders der Erstkontakt seiner Patienten mit dem teuren Gerät sei oftmals ein besonderer Moment, auch für ihn als Therapeut, sagt Kettwig: „Wenn wir einen Menschen haben, der weder geh- noch stehfähig ist, und dieser plötzlich wieder stehen kann, ist das schon ein erhebendes Gefühl. Da ist bei dem ein oder anderen schon einmal eine Träne geflossen. Gerade für Patienten, die über einen langen Zeitraum hinweg im Rollstuhl sitzen, ist es ein unglaubliches Gefühl, ihre volle Körpergröße plötzlich wieder wahrnehmen zu können.”

Im Hinblick auf die Nutzung und Ergebnisse des Exoskeletts kann man von einer Erfolgsgeschichte berichten. Innerhalb von knapp zwei Jahren habe man in der Klinik für Paraplegiologie und Neuro-Urologie in Bad Berka schon um die 600 Therapieeinheiten absolviert. Mittlerweile, erzählt der Physiotherapeut, gebe es neben dem in der Klinik vorhandenen Exoskelett auch solche für den häuslichen Gebrauch. Die seien im Moment allerdings noch ziemlich unausgereift. Ähnlich wie bei den Handys werden die Geräte aber natürlich fortlaufend kleiner und leistungsfähiger. Denkbar wäre in der Zukunft also etwa ein Skelett, was sich mit wenigen Handgriffen anlegen lässt und voll in den Alltag der Patienten integriert werden kann. Die ersten Schritte sind gemacht!

Lars Kettwig

 

Ihr Experte für die Behandlung mittels Exoskelett:
Lars Kettwig
Physiotherapeut in der Klinik für Paraplegiologie und Neuro-Urologie der Zentralklinik Bad Berka

 

 

 

 

 

 

Einen Videoclip zum Thema finden Sie auf unserer Website unter „Aktuelles aus den Kliniken“:

https://www.rhoen-klinikum-ag.com/videos.html