Tabuthema Endometriose: „Endlich tut sich da etwas!“

Tabuthema Endometriose: „Endlich tut sich da etwas!“

Die Endometriose bringt für eine große Anzahl an Frauen oft unerträgliche Schmerzen mit sich. Auch wenn die Krankheit seit Langem bekannt ist, wurde sie häufig tabuisiert.

Eine Tendenz, die sich zum Glück seit einiger Zeit umkehrt: Betroffene Frauen fühlen sich ermutigt, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen und ärztliche Hilfe zu suchen.

Ein ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der Endometriose-Diagnose und -Behandlung ist Professor Dr. Ivo Meinhold-Heerlein. Er ist Direktor der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe des Universitätsklinikum Gießen und Marburg am Standort Gießen, zu der auch das Endometriose-Zentrum gehört.

In Zusammenarbeit mit Expert:innen unterschiedlichster Disziplinen bietet man hier ein diagnostisches und therapeutisches Rundum-Konzept für Menschen mit chronischem Unterbauchschmerz an.
Erklärtes Ziel: Ein möglichst ganzheitliches Bild von der Patientin zu bekommen – und die bestmögliche Therapie anzubieten. Ein Angebot, das immer mehr Frauen annehmen – und aus ganz Deutschland nach Gießen reisen.

Im Gespräch mit dem RHÖN-Gesundheitsblog spricht Professor Meinhold-Heerlein über schwindende Tabus im Umgang mit Endometriose, aktuelle Behandlungsmöglichkeiten und den besonderen „Schmerzschrittmacher“, der schon viele Patientinnen von ihren quälenden Schmerzen befreit hat.

Herr Professor, wie viele Frauen sind von Endometriose betroffen?

Die Krankheit betrifft Schätzungen zufolge mindestens 15 Prozent der Frauen. Zum Glück leidet nur ein einstelliger Prozentsatz besonders stark unter ihr, so dass eine Behandlung notwendig wird.

Wann treten die Beschwerden auf?

Vor allem im Lebensabschnitt der Geschlechtsreife, also ab dem Eintreten der ersten Regelblutung.

Woran kann man erkennen, dass eine Endometriose vorliegt?

Das Hauptsymptom ist der Regelschmerz, der manchmal derart stark ist, dass die jungen Frauen nicht in die Schule gehen können, oftmals sogar kollabieren und regelmäßig Schmerzmittel einnehmen müssen. Manchmal müssen Morphine, also sehr starke Schmerzmittel, verschrieben werden.

Endometriose galt sehr lange als Tabuthema. Warum ist das so?

Regelschmerzen gelten seit Jahrhunderten als etwas Selbstverständliches. Ein Klagen darüber wurde und wird oft mit einem kurzen „Stell dich nicht so an!“ abgetan. Das kann für Betroffene sehr belastend sein – somatisch, aber auch psychisch. Zudem bleibt eine Endometriose eben genau deshalb oftmals unentdeckt, weil sie mit „ganz normalen Schmerzen“ verwechselt wird. Erschwerend kommt noch hinzu, dass die Krankheit in der ärztlichen Ausbildung sehr lange keine Rolle gespielt hat. Dabei ist seit über Hundert Jahren ja bekannt. Und es ist nachgewiesen, dass es eine derartige Krankheit wirklich gibt.

Aber nicht jede Endometriose macht automatisch Probleme, wie Sie schon angedeutet haben…

Eine Endometriose, die keine Beschwerden verursacht, ist nicht schlimm, und muss auch nicht notwendigerweise behandelt werden. Unser Ziel muss es sein, denjenigen Frauen zu helfen, die wirklichen Beschwerden ausgesetzt sind und deren Lebensqualität darunter beträchtlich leidet. Ist das der Fall, rate ich Betroffenen dringend, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Viele Damen sind, wie Sie gesagt haben, im gebärfähigen Alter, wenn sie unter Endometriose mit starken Schmerzen leiden. Welche Rolle spielt das Thema Kinderkriegen im Hinblick auf die Krankheit?

Grundsätzlich kann Endometriose die Erfüllung des Kinderwunsches erschweren oder sogar zunichte machen. Ein Grund dafür ist, dass die Erkrankung die Anatomie verändern, also zum Beispiel die Eileiter verschließen oder im Eierstock die Eizellen bedrängen kann. Dadurch wird der natürliche Prozess des Schwangerwerdens unmöglich. Der zweite Punkt ist, dass die Eizellen bei Endometriose-Patientinnen schneller reifen. Das heißt, dass die Befruchtungsfähigkeit schneller abnimmt als bei Frauen ohne Endometriose. Mit einkalkulieren muss man auch, dass Frauen heute im Durchschnitt ihre Kinder zehn Jahre später bekommen als noch vor 50 Jahren. Das hat zur Folge, dass die Endometriose sich auch zehn Jahre länger entwickeln kann. Gleiches gilt für die Eizellen.

Wie kommt es grundsätzlich zur Entstehung einer Endometriose?

Es gibt mehrere Modelle, wie man sich die Entstehung erklärt. Das am besten nachvollziehbare geht davon aus, dass es während der Regelblutung zum Übertritt von Regelblut in die Bauchhöhle kommt. In dem Moment, in dem dieses Blut nicht nur durch die Scheide nach außen fließt, sondern auch über die Eileiter in den Bauchraum, besteht die Möglichkeit, dass sich Zellen der Gebärmutterschleimhaut im Bauchraum ansiedeln und dort festwachsen. Genau das verursacht diese schlimmen Schmerzen, die jeden Monat aufs Neue auftreten. Man nennt das retrograde Menstruation. „Retro-grad“ deshalb, weil das Blut quasi in die falsche Richtung rinnt. Viele der Endometriose-Patientinnen leiden unter ebendieser retrograden Menstruation.

Handelt es sich also um eine Art anatomischer „Fehlkonstruktion“?

Es gibt den sogenannten Flimmerhäarchen-Mechanismus, der normalerweise die Eizelle in die Gebärmutter transportiert. Bei Endometriose-Patientinnen ist dieser Mechanismus gestört, und dadurch wird der genannte Transport in die „falsche Richtung“ quasi forciert. Das weiß die Medizin mittlerweile.

Wie kann man sich die Diagnosestellung der Endometriose vorstellen?

Besonders aussagekräftige Ergebnisse lassen sich vor allem mit einer Bauchspiegelung erzielen. Hier wird Gewebe aus dem Eierstock oder vom Bauchfell entnommen und in der Pathologie untersucht. Hieraus lässt sich dann die Diagnose Endometriose mikroskopisch beweisen.

Wie steht es um die Behandelbarkeit?

Ob eine Operation aufwändig ist, hängt hauptsächlich davon ab, wie ausgeprägt die Endometriose bei einer bestimmten Person ist und in welchen Bereichen des Körpers sie vorzufinden ist. In manchen Fällen kann man die Krankheit operativ komplett entfernen. Wichtig ist zu wissen: Nicht jede Patientin, die Endometriose-typische Beschwerden hat, braucht eine Operation. Im Gegenteil. Wir wollen natürlich unnötige Operationen tunlichst vermeiden. Stattdessen kann das Verschreiben von Tabletten im Sinne einer Hormon- oder Schmerztherapie sinnvoll sein. Folgt daraus Beschwerdefreiheit, gibt es natürlich keinen Anlass, eine Bauchspiegelung zu machen.

Ist Endometriose heilbar?

Leider nein. Die Erkrankung kann quasi ständig wieder neu entstehen. Das ist auch der Grund dafür, weswegen manche Frauen immer wieder operiert werden müssen.

Aber es gibt durchaus Entwicklungen, die Hoffnung machen können. Zum Beispiel den sogenannten „Schmerzschrittmacher“…

Ja, ihn bieten nur sehr wenige Zentren weltweit an. Wir hier in Gießen sind eines davon. Und sehr stolz darauf. Gemeinsam mit den Kolleg:innen aus der Neurochirurgie implantieren wir diesen Neurostimulator. Er stimuliert Nerven im kleinen Becken derart, dass die Patientinnen weniger Schmerzen empfinden. Zusätzlich erleiden viele Frauen aufgrund mehrerer Operationen Funktionsstörungen der Blase oder des Darmes. Durch die Stimulation können wir diese Probleme in den Griff bekommen. Das ist natürlich für all jene Betroffenen, bei denen es keine alternative Therapiemöglichkeit gibt, eine wirklich segensreiche Sache.

Kann man diesen Simulator allen Betroffenen einbauen?

Leider nein. Er muss quasi „passen“. Anders formuliert: Wir müssen vorher sicher sein, dass der Simulator der Patientin tatsächlich helfen kann. Dahinter steckt eine sehr sorgfältige Auswahl. Außerdem müssen alle anderen Therapieoptionen ausgeschöpft sein, also schmerztherapeutische, operative und medikamentöse.

Was hat sich Ihrer Ansicht nach in den vergangenen Jahren zum Positiven hin verändert, im Hinblick auf die Endometriose?

Die Krankheit wird zunehmend enttabuisiert. Endlich tut sich da etwas! Austausch findet vor allem in den sozialen Netzwerken statt, wo Betroffene sich unterhalten und mental unterstützen. Zudem ist ein erstaunlicher Schatz an Faktenwissen vorhanden, den die Menschen dort untereinander austauschen. Was ich auch merke, ist, dass viele meiner Patientinnen unser Zentrum quasi im Netz finden, und gar nicht den „Umweg“ über den Frauenarzt machen. Da ist eine große Dynamik drin.

… und hinsichtlich Ihrer Disziplin?

Hier verfeinern sich die Verfahren der Diagnostik oder der Therapie immer mehr. Das hat zur Folge, dass wir die Endometriose zwar radikal, aber eben gleichzeitig auch sehr schonend für Körperfunktionen operieren können. Und die bildgebende Diagnostik macht es mittlerweile möglich, dass wir die Krankheit per Ultraschall oder MRT wesentlich besser sichtbar machen können. Was mich auch freut, ist, dass wir in der studentischen Ausbildung mittlerweile sehr penibel darauf achten, dass das Thema Endometriose in der Medizin endlich den hohen Stellenwert bekommt, der ihm angemessen ist.

 

 

 

 

 

 

Ihr Experte für Endometriose:
Professor Dr. Ivo Meinhold-Heerlein
Direktor der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe des Universitätsklinikum Gießen und Marburg am Standort Gießen