13-jährige Patientin aus der Ukraine wird am UKGM behandelt: „Wir haben jeden Tag Angst“

13-jährige Patientin aus der Ukraine wird am UKGM behandelt: „Wir haben jeden Tag Angst“

Seit ihrem fünften Lebensjahr braucht Elisaveta ein mobiles Beatmungsgerät, das sie mit zusätzlichem Sauerstoff versorgt. Tag und Nacht. Raketenangriffe nahe ihrer Heimatstadt in der Zentralukraine, die Zerstörung von Infrastruktur und zunehmende Stromausfälle bei der Beatmung machten die Versorgung zuhause irgendwann unmöglich. Ohne eine gesicherte Sauerstoffversorgung bestand für die 13-Jährige Lebensgefahr. Ihre Mutter Alla setzte alle Hebel in Bewegung, um ihr krankes Kind in Sicherheit zu bringen.

An diesem Junitag scheint die Sonne warm in das Patientenzimmer auf Station Pfaundler in der Gießener Kinderklinik. Im Bett liegt Lisa, wie sie von ihrer Mutter liebevoll genannt wird, und versteckt sich hinter einem Tablet, das im Moment ihre einzige Verbindung zur Welt da draußen und auch zu ihren Freunden und ihrer Heimat in der Ukraine ist. Lisa ist frustriert und traurig. Sie will auch nicht reden, kein Foto, ihre Mutter soll das machen. „Gerade jetzt in der Pubertät ist es für Lisa schwer, ihre Erkrankung hinzunehmen“, sagt Alla Prucakova, „oft fragt sie mich, warum sie so leiden muss und woher das alles kommt. Dazu jetzt noch der Krieg, die Flucht und die Ungewissheit, wann wir wieder nachhause können. Das ist schwer auszuhalten.“

Die Erkrankung ist behandelbar, aber nicht heilbar

Alla ist eine zierliche Frau, die mit leiser Stimme spricht. Doch jenseits der erkennbaren Erschöpfung und der Sorgen um ihr Kind und eine ungewisse Zukunft spürt man ganz deutlich die Entschlossenheit und Stärke dieser Frau, die sie schon so viele Jahre im Umgang mit der Erkrankung von Lisa beweisen musste. Als Lisa fünf Jahre alt war, wurde bei ihr Morbus Pompe (siehe unten) diagnostiziert. Eine Stoffwechselerkrankung, die zu Funktionsstörungen in verschiedenen Organen, insbesondere in der Muskulatur führen kann. Zwei Jahre lang war Lisa dann fast durchgängig im Krankenhaus und musste auch anschließend weiter mit zusätzlichem Sauerstoff versorgt werden. Sie hat deswegen ein Tracheostoma, eine Kanüle die über einen Luftröhrenschnitt eingesetzt wird und über die dauerhaft Sauerstoff gegeben werden kann. Alle zwei Wochen muss sie zur Infusion in die Klinik und bekommt ein Medikament, das die Erkrankung in Schach halten soll. Eine Heilung ist bei Morbus Pompe nicht möglich. Mit acht Jahren musste Lisa in den Rollstuhl, der Muskelabbau war so weit fortgeschritten, dass sie nicht mehr frei laufen konnte. In Folge kam eine Verkrümmung der Wirbelsäule (Skoliose) hinzu, die auch ein stabiles Sitzen erschwert. Das Zentrum für Seltene Erkrankungen (ZSEGI) an der Gießener Kinderklinik (Leitung Prof. Bernd Axel Neubauer, Prof. Andreas Hahn, Dr. Christina Lampe) ist unter anderem auf diese Stoffwechselerkrankung spezialisiert.

Die Evakuierung war lebensnotwendig

Mit dem Krieg musste die 46-jährige Mutter wieder und diesmal an anderer Front zur Kämpferin für Lisas Überleben werden. In der Heimatstadt Dnipro, mit einer Million Einwohnern die viertgrößte Stadt der Ukraine, wurde die Lage immer gefährlicher. Die Frontlinie mit erbitterten Kämpfen war bereits im Mai auf nur 90 Kilometer heran gerückt und Raketenangriffe sowie ständige Stromausfälle wurden vor allem für Lisas Beatmung zur akuten Bedrohung. Für die Mutter war klar, sie musste ihre Tochter in Sicherheit bringen: „Bei der Evakuierung hat uns die internationale Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ sehr geholfen. Sie hatten medizinisch ausgestattete Waggons, in denen die Patienten liegend transportiert und medizinisch versorgt werden konnten, anders hätten wir das gar nicht schaffen können.“ Rund 14 Stunden ging es dann für Alla und Lisa mit dem Zug von Dnipro nach Lwiw. Von dort  wurden die Patienten und Patientinnen mit 30 Rettungswagen zum nächsten Flughafen in Polen gebracht. Hier übernahm dann die Bundeswehr, die ukrainische Patientinnen und Patienten über das Kleeblattsystem (siehe unten) auf deutsche Kliniken verteilt.

Angst um die Familie zuhause

In der Gießener Kinderklinik teilen sich Mutter und Tochter nun ein Zimmer. Lisa ist stabil und bekommt regelmäßig ihre Infusionen. Der Sozialdienst bemüht sich darum, eine passende rollstuhlgerechte Wohnung für die Beiden zu finden. Die Ärzte konnten mittlerweile einen großen Wunsch von Lisa erfüllen: Um stabil im Rollstuhl zu sitzen und endlich mal wieder in die Welt außerhalb ihres Krankenzimmers zu kommen, brauchte sie aufgrund ihrer Skoliose ein orthopädisches Korsett. Das hat sie nun bekommen. Auch, wenn sie ihre Tochter jetzt in Sicherheit weiß und eine optimale medizinischen Versorgung gewährleistet ist, bleiben die Sorgen für die Mutter angesichts des verheerenden Kriegs in ihrer Heimat groß. Täglich telefoniert sie mit ihrem Mann, der in Dnipro in der Stadtverwaltung tätig war und dort nun hilft die Verteidigung zu organisieren: „Für uns ist ganz klar, die russischen Raketen kommen überall hin, wir haben jeden Tag Angst um unsere Familie zuhause.“ Ihr größter Wunsch: „Gesundheit für meine Tochter, Frieden und dass wir wieder nachhause können.“


Morbus Pompe ist eine seltene, angeborene Stoffwechselerkrankung. Aufgrund eines genetischen Defekts fehlt dem Körper ein Enzym, das eine bestimmte Form von abgespeichertem Zucker (Glykogen) abbauen kann. Weil dies nicht mehr gelingt, lagert sich das Glykogen in Organen und der Muskulatur ab. Diese Ablagerungen können, je nach Menge und Dauer, zu schwerster Muskelschwäche, sowie zu Atem- und Herzfunktionsstörungen führen. Besonders die Atemmuskelschwäche führt bei etwa einem Drittel der Betroffenen dazu, dass eine zeitweise oder dauerhafte Beatmung notwendig wird. Morbus Pompe ist behandelbar, aber nicht heilbar. Die Behandlung erfolgt durch eine Enzymersatztherapie. Dabei wird das fehlende Enzym ersetzt, um die Anlagerung von Glykogen im Körper zu verhindern.

Zu einer strukturierten Verteilung von ausländischen aber auch inländischen Patienten (z.B. in der Corona-Pandemie) hat das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) das Kleeblattsystem entwickelt. Es gibt sechs Kleeblätter. Hier haben sich mehrere Bundesländer zu einem Kleeblatt zusammengeschlossen. Hessen gehört mit Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Baden-Württemberg zum Kleeblatt Südwest. Wenn Klinken im In- oder Ausland überlastet sind oder die Versorgung von Patienten nicht mehr gewährleistet ist, wird die Verteilung in Deutschland über das gemeinsame Melde- und Lagezentrum von Bund und Ländern (GMLZ) koordiniert. Dies verteilt dann die Patiententransporte, gemäß den Klinik-Kapazitäten der Kleeblätter, auf die Bundesländer. Aus Sicherheitsgründen finden derzeit keine direkten Verlegungen aus der Ukraine nach Deutschland statt. Die Patientinnen und Patienten werden deshalb zuvor durch Hilfsorganisationen in sichere Anrainerstaaten gebracht und von dort nach Deutschland transportiert.

Quelle: BKK

 


Autorin: Christine Bode

Station Pfaundler in der Gießener Kinderklinik