Hüftgelenksdysplasie frühzeitig diagnostizieren und korrigieren

Hüftgelenksdysplasie frühzeitig diagnostizieren und korrigieren

Ungefähr fünf Prozent der deutschen Bevölkerung leiden an einer angeborenen Hüftgelenksdysplasie, also einer unzureichend ausgebildeten Hüftpfanne. Der Hüftkopf ist hier nur zu einem gewissen Anteil überdacht, steht also nicht korrekt in der Pfanne.

Die Folge können schmerzhafte Fehl- und Überbelastungen sein, sagt Professor Dr. Michael Müller, Leiter des Departments Orthopädie und Endoprothetik innerhalb der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie der Zentralklinik Bad Berka.

Wie genau das Problem während der Entwicklung des Kindes im Bauch der Mutter entsteht, ist bisher nicht abschließend geklärt. Die Medizin geht aber davon aus, dass sowohl bestimmte erbliche Faktoren eine Rolle spielen, als auch die Lage des Fetus in der Gebärmutter. Ein häufigeres Vorkommen bei Zwillingsgeburten oder Beckenendlage werde von der Wissenschaft beobachtet, sagt Professor Müller.

Die gute Nachricht lautet: Wird die Hüftgelenksdysplasie anhand der Säuglings-Sonographie frühzeitig diagnostiziert, kann sie durch eine adäquate Behandlung noch in den ersten Lebensmonaten zu einem gewissen Grad korrigiert werden.

Wichtig ist aber zunächst einmal die Diagnose, die nicht immer einfach ist. Denn in der Regel ist die Fehlbildung im Kindes-, Jugend- und jungen Erwachsenenalter nicht schmerzhaft, fällt den Betroffenen also häufig nicht auf. Meist hätten die Menschen mit Hüftdysplasie sogar eine sehr hohe Beweglichkeit und seien auch sportlich aktiv, sagt Professor Müller.

Erst im Verlauf des Lebens kann aus der Fehl- und Überbelastung dann eine schmerzhafte Funktionseinschränkung werden. Dieser Problematik kann durch eine Operation vorgebeugt werden. „Vorausgesetzt, es liegt noch keine Arthrose vor“, warnt Professor Müller.

Im Gespräch mit dem RHÖN-Gesundheitsblog spricht der Experte über das gängige Operationsverfahren, die sogenannte Beckenosteotomie, die Gefahren einer schleichend verlaufenden Arthrose, und das Feedback seiner Patientinnen und Patienten.

Herr Professor Müller, kurz zur Einordnung: Welche Personen sind denn meistens von einer Hüftgelenksdysplasie betroffen?

Grundsätzlich zehnmal mehr Frauen als Männer. Warum das so ist, weiß die Medizin noch nicht genau.

Wie wird die Fehlbildung festgestellt?

Seit den Neunzigerjahren gibt es den sogenannten Grafschen Ultraschall, auch Hüft-Säuglings-Ultraschall genannt, den wir während der Früherkennungsuntersuchungen U1 und U3 durchführen, um die Hüftdysplasien zu scannen. Das ist ein sehr erfolgreiches Verfahren zur frühen Diagnose einer Dysplasie. Wenn eine solche entdeckt wird, können wir zu diesem Zeitpunkt schon Maßnahmen ergreifen, wie zum Beispiel eine bestimmte Wickelmethode des Babys, oder auch sogenannte Spreizhosen, die dann für ungefähr sechs Wochen getragen werden müssen. Ziel dieser Maßnahmen ist es, dass die Hüftpfanne sich während der ersten sechs Lebensmonate noch nach-ausbilden kann.

Sind diese Maßnahmen in der Regel ausreichend?

In der frühen Lebensphase sind gewisse Korrekturen durch diese Maßnahmen noch möglich. In seltenen Fällen müssen wir Neugeborene auch operieren. Meist dann, wenn der Hüftkopf komplett aus der Pfanne luxiert ist, wie wir das nennen. Dann muss dieser wieder in die Pfanne eingestellt und durch bestimmte Gipsverbände dort für einige Wochen gehalten werden. Trotz der Einführung des Säuglingsultraschalls kann in einigen Fällen die Dysplasie übersehen werden. Und zwar meist dann, wenn sie nur „grenzwertig“ vorliegt, wie wir das nennen. Interessant ist, dass diejenigen Kinder, bei denen der Hüftkopf nicht richtig in der Pfanne steht, oftmals solche sind, die besonders beweglich sind. In vielen Fällen sind das spätere Balletttänzerinnen oder -tänzer. Und nicht selten kommen diese Leute auch beschwerdefrei ins Erwachsenenalter. Doch irgendwann können unbestimmte Schmerzen im Bereich des Hüftgelenks auftreten, die anfänglich meist muskulärer Natur sind. Dies ist häufig Folge der Überbelastung. Zusätzlich können auch Rückenschmerzen die Folge einer Dysplasie sein.

Wie können Sie als Arzt dann helfen?

Zunächst müssen wir die Patientin oder den Patienten erst einmal gut untersuchen. Uns fällt dann meist die eben beschriebene hohe Beweglichkeit des Hüftgelenkes auf, wobei vor allem die sogenannte Innenrotation besonders hoch ist. Dann zeigt meist das Röntgenbild das Vorliegen einer Hüftdysplasie.

Was zeichnet die Hüftdysplasie denn aus?

Die Hüftdysplasie ist durch eine unzureichend ausgebildete Hüftpfanne gekennzeichnet, eine sogenannte Hüftreifungsstörung, wodurch der Hüftkopf unzureichend oder im Extremfall gar nicht in der Pfanne steht. Für eine adäquate Pfannenreifung muss der Hüftkopf bereits während der Entwicklung im Mutterleib gut in die Hüftpfanne gedrückt werden. Und wenn dies nicht der Fall ist, dann bleibt die korrekte Pfannenreifung aus. Fehl- und Überbelastungen sind dann meist die Folge, vor allem im Langzeitverlauf.

Kann der Körper solche Unvollkommenheiten nicht irgendwie ausgleichen?

Die unzureichende Überdachung des Hüftkopfes wird anfänglich durch die Hüftkapsel, die das Hüftgelenk umgibt, gut kompensiert. Die Patienten merken also gar nicht, dass sie an einer Hüftdysplasie leiden. Meist sind sie sehr beweglich und auch sportlich aktiv. Wird diese Kapsel dann aber im Lauf der Jahre langsam überdehnt, resultiert daraus eine zunehmende Instabilität des Gelenks. Und ebendiese versucht die hüftgelenksumgebende Muskulatur dann zu kompensieren. Das ist meistens zwischen dem zwanzigsten und dem vierzigsten Lebensjahr der Fall. Die vermehrte muskuläre Anspannung führt dann wiederum zu vermehrten muskulären Schmerzen, die teilweise auch bis in das Kniegelenk ausstrahlen können. Im weiteren Verlauf kann sich dann auch eine Hüftgelenksarthrose ausbilden, also ein Gelenkverschleiß durch die Überbelastung des lasttragenden Knorpels.

In welchen Situationen merken die Betroffenen das dann?

Besonders nach längerer sportlicher Betätigung oder langen Spaziergängen treten die ersten Schmerzen auf. In vielen Fällen müssen dann auch Schmerztabletten eingenommen werden, und die Betroffenen reduzieren bewusst oder unbewusst ihre Aktivitäten und Belastungen. Durch eine gezielte Physiotherapie und Muskeltraining können die Menschen die Schmerzen zwar etwas lindern, aus Erfahrung allerdings nur kurz. Langfristig ändern diese leider nicht das mechanische Grundproblem, also die Überbelastung durch die unzureichende Überdachung des Hüftkopfes.

Was können Sie dann tun, um diesen Menschen langfristig zu helfen?

In der Regel lässt sich die Situation nur operativ durch eine sogenannte Beckenosteotomie verbessern. Durch diese lässt sich die Pfanne aus ihrem knöchernen Lager im Becken lösen und kann dann besser  über den Hüftkopf geschwenkt werden. Daraus resultiert eine deutliche Verbesserung der Überdachung des Hüftkopfes. Diese OP ist sehr komplex und aufwändig, weil man die Pfanne aus dem Becken quasi „freimeißeln“ muss. Als Hintergrund: Sie hängt an den drei Beckenknochen, dem Schambein, dem Sitzbein und dem Darmbein. Während einer solchen Operation werden also alle drei Knochen vollständig oder teilweise durchtrennt und dreidimensional dann die Pfanne in ihrer Stellung über dem Kopf korrigiert.

Klingt aufwändig, wie Sie sagen. Gibt es eine Alternative?

Ja. Wir hier in der Klinik führen stattdessen die sogenannte Berner periazetabuläre Osteotomie“ (PAO) nach Ganz durch. Ein wesentlicher Vorteil dieser Variante ist, dass sie minimal-invasiv, also knochen- und muskelschonend, durchgeführt werden kann. Die Patienten sind dann ungefähr eine Woche im Krankenhaus. Direkt am ersten postoperativen Tag erfolgt die Mobilisation anhand von Unterarm-Gehstützen. Eine Teilbelastung ist für die ersten acht bis zwölf Wochen notwendig.

Und wie lange dauert die Ausheilung?

Nach zwei bis drei Monaten Reha-Phase können die Patientinnen und Patienten wieder voll belasten. Und nach spätestens einem halben bis einem Jahr sind sie meistens komplett schmerzfrei. Das heißt auch, dass die meisten fast alle Tätigkeiten des Alltags wieder ausüben können und auch wieder sportlich voll aktiv sind.

Und sie können alle Fälle von Hüftdysplasien auf diese Weise behandeln?

Ja, vorausgesetzt, es liegt noch keine Arthrose vor und der Hüftkopf ist nicht vollständig aus der Pfanne luxiert.

Woran merkt man, dass es sich schon um eine Arthrose handelt?

Die Arthrose entwickelt sich bei der Hüftdysplasie meist frühzeitiger durch die dauerhafte Überbelastung des Gelenkknorpels, aufgrund der kleinen Gelenkfläche. In der Regel resultiert daraus dann meist eine deutlichere Belastungseinschränkung und ein zusätzlicher Nacht- und Ruheschmerz. Die vorher vordergründig muskulären Schmerzen ziehen häufig in die Leiste, also dorthin, wo das Hüftgelenk sich auch befindet.

Wann setzen arthrotische Veränderungen denn ungefähr ein?

Grundsätzlich kann man sagen, dass sie nach ungefähr fünf bis zehn Jahren nach Auftreten der ersten Schmerzen vorliegen können. Diese Arthrosen können, je nach Ausprägung der Dysplasie, schon im Alter von dreißig bis vierzig Jahren beginnen. Und wenn die Erkrankung weiter fortschreitet, kann es sein, dass manche Betroffene schon in einem sehr frühen Lebensalter eine Hüftprothese brauchen. Deshalb ist es wichtig, Fehlbildungen wie eine Hüftdysplasie rechtzeitig zu erkennen und anhand der Operation zu behandeln. Ziel ist es also, das Gelenk zu erhalten und der Entstehung einer Arthrose entgegenzuwirken.

Wie ist das Feedback der Personen, die Sie operiert haben?

Sehr positiv. Die meisten Patienten sind nach einem Jahr schmerzfrei und auch wieder sportlich aktiv. Ich habe Bilder von Betroffenen bekommen, die einen Halb-Marathon gelaufen sind oder wieder Bergsteigen waren, was mich natürlich sehr freut.

 

Ihr Experte für Orthopädie und Unfallchirurgie:
Professor Dr. Michael Müller
Leiter des Departments Orthopädie und Endoprothetik innerhalb der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie der Zentralklinik Bad Berka