Essen ist (k)ein Gefühl

Essen ist (k)ein Gefühl

Essstörungen, ob Magersucht, Anorexie, Bulimie, Übergewicht oder Mischformen  betreffen zunehmend immer mehr Menschen. Neben psychischen Beeinträchtigungen können diese Erkrankungen auch schwerwiegende organische Schäden nach sich ziehen und schlimmstenfalls sogar tödlich enden.

Immerhin, als gesichert gilt die Erkenntnis: Der beste Schutz vor Essstörungen ist ein gesundes Selbstvertrauen und Körperbewusstsein. Patienten zu helfen, ebendiese wiederzuerlangen, ist die Aufgabe von Sandra Röder und Meike Storath. Beide sind staatlich geprüfte Diätassistentinnen und arbeiten in der Psychosomatischen Klinik Bad Neustadt, Hand in Hand mit Psychologen und anderem medizinischen Fachpersonal.

„Freude am Essen zu empfinden ist für die allermeisten unserer Patienten nicht vorstellbar“, sagt Röder. Vielmehr empfinden sie die Nahrungsaufnahme als ein notwendiges Übel, eine Möglichkeit zu überleben.“ Was die Medizin auch weiß: „Grundsätzlich werden Gefühlslagen oft über Essen ausgelebt.”

Lehrküche für die Patienten

Um die komplexen psychologischen Krankheitsbilder, aus denen Essstörungen resultieren, bestmöglich zu behandeln, braucht es ein strukturiertes Vorgehen und klare Konzepte im Umgang mit den Patienten. „Das heißt zum Beispiel, dass der Stationsarzt dem Patienten eine sogenannte Lehrküche anordnet, wie wir das nennen”, erzählt Sandra Röder.

Dort werden anorektische als auch bulimische Patienten behandelt, also solche, die keinen Appetit haben, und solche, die an übermäßigem Appetit leiden. Meistens sind es Menschen, die schon mehrere Wochen in der Klinik verbracht haben, bis sie mental bereit sind, an der Lehrküche teilzunehmen, sagt Meike Storath, „weil sie vorher vielleicht noch nicht stabil genug waren, jedoch wird dies individuell entschieden.“

Und was tut man als Patient zwischen Töpfen und Brettern? „Wir haben den Anspruch, dass wir in der Lehrküche erst einmal nicht über Kalorien oder ähnliche Dinge sprechen, weil das die meisten Patienten aus dem Effeff kennen.” Stattdessen, versuche man Rezepte herauszusuchen, die bewusst kalorienreich sind, gerade wenn viele ihrer Patienten untergewichtig sind.

Von der Diät-Bewegung beeinflusst

Es gehe um „ganz normale Rezepte”, die „ohne Spezialprodukte auskommen oder zu sehr in eine diätetische Richtung gehen”, sagen die Diätassistentinnen. Viele Patienten orientieren sich an der Diät-Bewegung, die den Menschen übers Fernsehen und die sozialen Medien oft regelrecht eingetrichtert wird.

Hier, sagen die Diätexpertinnen aus der Klinik, würden „dubiose Ernährungsempfehlungen” gegeben. Patienten erhielten verzerrte Vorstellungen davon, was sie angeblich dürfen, oder eben nicht dürfen. Oder auch davon, was sie sich vermeintlich erst verdienen müssen. Diese scheinbaren Automatismen im Bewusstsein der Patienten gelte es zu durchbrechen. Deswegen der konsequente Ansatz der Klinik und ihr Lehrküchenprogramm.

„Es geht um Angst, bestimmte Lebensmittel zu verzehren und vor dem Gefühl danach“, sagt Meike Storath: „Außerdem trainieren wir die Situation, mit anderen gemeinsam am Tisch zu sitzen, etwas auf den eigenen Teller zu nehmen, und sich zu entscheiden, wie viel das sein soll. Es geht um Fragen wie: Wie gucken die anderen? Was sagen die anderen? Wie fühlt sich das Essen in meinem Mund und Bauch an?” Essstörungen würden dafür sorgen, dass ihren Patienten viele Dinge durch den Kopf gehen. „An dieser Stelle müssen wir als Berater ansetzen.”

Maximal 8 Teilnehmer in der Lehrküche

In der Lehrküche geschult wird regelmäßig eine kleine Gruppe von maximal acht Teilnehmern. Während des Kochens versuchen Storath und Röder ihre Patienten mit deren Empfindungen wahrzunehmen: „Wir merken dann manchmal, dass jemand an seine Grenzen kommt, etwa weil er sich plötzlich auffällig verhält. Und versuchen dann, ihn wieder in die Gruppe zu integrieren.“

Es habe schon Anorexie-Patienten gegeben, die länger als ein halbes Jahr in Behandlung gewesen seien, erzählt Röder. Einmal pro Woche gebe es zwei Termine, und zwar eine Theorie- und eine Praxiseinheit. Nach der dritten Woche hat der Oberarzt dann die Möglichkeit, das ganze Programm individuell weiterzuverordnen.

Grundsätzlich gebe ihr Team jede Woche Rückmeldungen an den Chef, und zwar darüber, „wie wir die verschiedenen Patienten erleben”, sagt Röder. Da aus allen Abteilungen der Psychosomatischen Klinik eine solche Rückmeldung bezüglich eines jeden einzelnen Patienten erfolge, ergeben alle zusammen dann ein ganzheitliches Bild von dessen aktueller Situation.

Auch Übergewicht wird behandelt

Neben Bulimie und Anorexie kümmern sich Röder und Storath auch um Menschen, die an Übergewicht, also Adipositas, leiden. Hier gehe es im Rahmen der Therapie auch darum, den  Hunger mit seinen verschiedenen Facetten wahrzunehmen: Appetit? Gelüste? Heißhunger? Wann genau verspüre ich diese Dinge? Wann bin ich satt? Seelischer oder körperlicher Hunger? „Hier wollen wir als Ernährungsberater sensibilisieren. Es geht darum, diese Fragen ins Bewusstsein zu holen, damit die Patienten und unsere Kollegen in der Klinik damit dann in der Therapie arbeiten können“, heißt es.

Viele Menschen seien von den vielen Diätempfehlungen verunsichert. „Bei uns hier in der Klinik geht es explizit nicht um Diäten, es gibt auch keine verbotenen Lebensmittel“, sagt Sandra Röder, „stattdessen um Achtsamkeit und bewussteres Essen“.

240 Betten hat die völlig neu konzipierte Psychosomatische Klinik Bad Neustadt. Und sie ist voll ausgelastet. Die Lehrküchenprogramme sind seit dem im Mai 2016 erfolgten Umzug ins neue Gebäude fest ins Therapieprogramm integriert. Dass Essstörungen mit dem richtigen Ansatz gut behandelbar sind, freut die beiden Diätassistentinnen natürlich: „Es ist schön mitanzusehen, dass viele sich nach einer gewissen Zeit trauen, ein Dessert oder eine Nuss-Nougat-Creme zu essen. Sie schränken sich also nicht mehr ganz so ein. Ein Erfolg für das Klinik-Team, und für die Patienten.

Ihre Expertinnen:
Sandra Röder und Meike Storath
Staatlich geprüfte Diätassistentinnen an der Psychosomatischen Klinik Bad Neustadt