Tabuthema Genitalverstümmelung: Hilfe für betroffene Frauen

Tabuthema Genitalverstümmelung: Hilfe für betroffene Frauen

Obwohl in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen die Beendigung der weiblichen Genitalverstümmelung sowie das Recht auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit festgehalten sind, wird die Tradition weiterhin in vielen Ländern der Erde fortgesetzt.

Laut Schätzungen der UN waren allein im Jahr 2023 mindestens vier Millionen Mädchen der Gefahr ausgesetzt, Opfer von Female Genital Mutilation Cutting (FGM_C) zu werden. Die UN-Prognose für die nächsten zehn Jahre sieht sogar noch düsterer aus: Bis zu 70 Millionen Frauen könnten beschnitten werden, sollte diese Praktik nicht gestoppt werden.

Auch in Deutschland ist die Thematik präsent. Unter anderem deshalb, weil viele ins Land geflüchtete Frauen davon betroffen sind. Im hessischen Gießen, wo es eine Erstaufnahmeeinrichtung gibt, arbeitet auch die Ärztin Dr. Leonie Wohlklang. An der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe des Universitätsklinikum Gießen und Marburg am Standort Gießen hat sie im Frühjahr 2022 eine Sprechstunde speziell für von FGM_C betroffene Mädchen und Frauen gegründet.

Im Gespräch mit dem RHÖN-Gesundheitsblog spricht Dr. Wohlklang über das komplexe Thema und seine medizinischen und kulturellen Facetten, ihre Erfahrungen mit ihren Patientinnen – und darüber, wie es zum Projekt „FGM-Sprechstunde“ gekommen ist.

Frau Dr. Wohlklang, wie kann man sich Ihre Sprechstunde vorstellen?

Sie ist an die gynäkologische Poliklinik angebunden und findet einmal wöchentlich statt. Wir haben einen Vormittag reserviert und eine Stunde pro Patientin eingeplant. Vor allem Mädchen und Frauen aus und um Gießen, die ursprünglich aus Somalia, Eritrea, Äthiopien, Guinea oder Nigeria kommen besuchen die Sprechstunde.

Die Sprechstunde ist bisher die einzige in dieser Art hessenweit.

Weshalb kommen diese Menschen zu Ihnen?

Einige Frauen benötigen medizinischen Rat aufgrund der zahlreichen möglichen gesundheitlichen und psychischen Folgen, die durch FGM_C entstehen können. Die meisten brauchen im Rahmen eines Asylverfahrens ein Gutachten für ihre Anwältin oder ihren Anwalt, das ihnen bestätigt, dass bei ihnen FGM_C vorliegt, was als Fluchtursache anerkannt werden kann. Daneben gibt es Fälle, bei denen mehrere Frauen aus einer Familie nach Deutschland flüchten, wobei die jüngeren Mädchen noch nicht beschnitten sind und geschützt werden sollen. Mir als Ärztin ist besonders wichtig, dass gerade diese jungen Mädchen vor der Praktik der Genitalverstümmelung bewahrt werden. Denn sie wären dem schutzlos ausgeliefert. FGM_C stellt ganz klar einen Verstoß gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit dar, und ist somit eine Menschenrechtsverletzung. Ein Gutachten darüber kann im Asylverfahren ganz klar helfen.

In welcher Verfassung befinden sich Ihre Patientinnen?

Oft kommt durch die zu erhebende Anamnese im Gespräch „viel hoch“. Eine Frau zum Beispiel, mit der ich länger gesprochen habe, war zunächst zurückhaltend, aber hat dann sehr viel, sehr lange und emotional erzählt. Über so viel, was sie erleben musste. Sie habe über all das noch nie mit jemandem gesprochen, hat sie gesagt. Ich bin zwar keine Psychologin, dennoch bestärken mich unter anderem solche Situationen immer wieder in der Überzeugung, dass die Sprechstunde hier eine gute Idee ist. Ziel war es von Anfang an, einen Raum für von FGM_C Betroffene zu schaffen, in dem wir uns ausreichend Zeit nehmen.

Was versteht man grundsätzlich unter „Genitalverstümmelung- bzw. beschneidung“?

Unterschieden wird in vier Typen, die teilweise noch einmal unterteilt sind. Nummer eins bezieht sich auf die Beschädigung bzw. Amputation der Klitoris und der Klitoris-Vorhaut, Nummer zwei betrifft die kleinen oder großen Vulvalippen mit oder ohne Klitoris. Unter Typ drei fällt die sogenannte Infibulation, bei der die Vagina durch Vernähung fast komplett verschlossen wird. Oft bleibt dann nur noch ein Stecknadel-großes Loch für den Abfluss von Urin und Menstrualblut übrig. Unter Typ vier fallen alle anderen Eingriffe am Genital, die nicht medizinisch indiziert sind, wie zum Beispieldas Anrauen oder das Trockenlegen der Vagina durch ein Pulver oder auch das Piercing.

Was sind die Erklärungsmuster für derartige Eingriffe, deren Stopp die Vereinten Nationen ja fordern?

Da gibt es unzählige „Gründe“, die unter anderem in die Bereiche Tradition, medizinische Mythen, Sozio-Ökonomie und Kontrolle der weiblichen Sexualität fallen. Eine Hypothese zum Beispiel handelt davon, dass man durch das „Zunähen“ verhindern möchte, dass schwangeren Frauen ihr Baby aus dem Körper herausfällt. Die Thematik ist extrem komplex und wird auch ganz unterschiedlich interpretiert.

Mal abgesehen von kulturellen Aspekten: Die Rechtsprechung sieht FGM_C in den allermeisten Ländern als Straftat an, und die Medizin ist sich einig, dass der Eingriff den betroffenen Frauen schwerwiegendes körperliches und seelisches Leid zufügt. Wie können Sie als Ärztin diesbezüglich helfen?

Viele Frauen, die infibuliert worden sind, wünschen sich eine Eröffnung. Das ist aus medizinischer Sicht schon deshalb wichtig, um die essentiellen Körperfunktionen wiederherzustellen, also zum Beispiel Wasserlassen und Menstruieren oder auch Geschlechtsverkehr. Eine solche Operation, Defibulation genannt, können wir Gynäkologinnen und Gynäkologen hier vor Ort in Gießen durchführen. Wesentlich komplexer ist eine sogenannte Rekonstruktions-OP, die jedoch – anders als die Defibulation – die Sensibilität im Genitalbereich teilweise wiederherstellen kann. Aktuell muss man sich für eine solche OP auf lange Wartezeiten einstellen, da sie nur an sehr wenigen Orten in Deutschland durchgeführt werden kann.

Wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, sich für betroffene Frauen zu engagieren?

In der Oberstufe habe ich den Roman „Wüstenblume“ von Waris Dirie gelesen, der mich sehr beschäftigt hat. Ich wurde Teil einer Aktionsgruppe gegen FGM_C in meiner Heimatstadt und hatte den Wunsch mich beruflich auch irgendwann zu engagieren. Für meine Doktorarbeit war ich in Burkina Faso und habe dort im Kreißsaal der Uniklinik der Landeshauptstadt ein Praktikum gemacht. Dort kam ich mit dem Thema FGM_C erneut in Berührung, was vermutlich die Entscheidung bekräftigt hat, die Frauenheilkunde als Fachrichtung für die Facharztausbildung zu wählen. Dass es jetzt die Sprechstunde am UKGM Gießen gibt, habe ich auch meinem Chef zu verdanken, der das Projekt von Anfang an unterstützt hat und mir den notwendigen Freiraum schafft.

Mein Traum wäre natürlich in erster Linie, dass dieser Praktik weltweit ein Ende gesetzt wird und keine Mädchen und Frauen mehr leiden müssen.

Haben Sie einen Wunsch für die Zukunft, was die Thematik angeht?

Mein Traum wäre natürlich in erster Linie, dass dieser Praktik weltweit ein Ende gesetzt wird und keine Mädchen und Frauen mehr unter FGM_C leiden müssen. Weiter wünsche ich mir, dass die Hilfe für betroffene Frauen im ganzen Land und auch international weiter und interdisziplinär ausgebaut wird. Dann könnten wir Gynäkolog:innen standardmäßig Hand in Hand mit Psycholog:innen, Urolog:innen und anderen Fachleuten zusammenarbeiten. Ein weiteres Anliegen ist mir, weiter über das Thema aufzuklären. Denn insgesamt ist es leider so, dass hinsichtlich des Themas FGM_C noch viel Unwissen herrscht, auch unter medizinischem Fachpersonal. Was auch daran liegen dürfte, dass die Thematik lange Zeit kein Bestandteil des Medizinstudiums oder der Facharztausbildung Gynäkologie war. Das ändert sich aber gerade, zum Glück.

Ihre Expertin für die Thematik Genitalverstümmelung bei Frauen:
Dr. Leonie Isabel Luna Wohlklang
Assistenzärztin an der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe des Universitätsklinikum Gießen und Marburg am Standort Gießen