E-Mental-Health-Angebote in Zeiten von Corona: Worauf Jugendliche achten sollten

E-Mental-Health-Angebote in Zeiten von Corona: Worauf Jugendliche achten sollten

Corona hat unser Leben gründlich verändert. Die Einschränkungen, die die Pandemie eindämmen sollen, belasten viele Menschen in besonderem Maße. Jeder von uns spürt die Auswirkungen und so müssen natürlich auch Kinder und Jugendliche mit neuen Gegebenheiten im Alltag umgehen: Durch beispielsweise Homeschooling konnten die Schüler nicht mehr in gewohnter Umgebung lernen, sondern waren neuen Herausforderungen ausgesetzt. Auch der neue Schulalltag sorgt für Unsicherheiten, insbesondere hinsichtlich der Abstandsregeln und Hygienevorschriften. Die Sorge, etwas falsch zu machen, und der Wegfall von Lehrern und somit Bezugspersonen, die zur Risikogruppe zählen, stresst viele Schüler. Zudem kommt noch die Angst hinzu, dass Schulen wieder schließen müssen und man selbst erkranken könnte.

„Insgesamt ist die Situation rund um Covid-19 eine Belastung für alle, und in besonderem Maße für Eltern und Kinder, das heißt für Familien“, erklärt Prof. Dr. Katja Becker. Sie ist Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikum Gießen und Marburg am Standort Marburg.

Wie soll man also mit der neuen Situation umgehen? Hilfe aus dem Internet sei nicht immer eine gute Idee, sagt Prof. Becker. Aber sie hat andere Vorschläge, die jungen Menschen in schwierigen Situationen erwiesenermaßen helfen können.

Im Gespräch mit dem RHÖN-Gesundheitsblog beschreibt die Ärztin die Belastung, die aus der Covid-19-Pandemie und den daraus resultierenden neuen Alltagssituationen insbesondere für Familien entstanden ist. Sie stellt in diesem Zusammenhang die gemeinsam mit Kollegen gestartete Studie vor, die das Hilfesuchverhalten von Schülerinnen und Schülern durch sogenannte E-Mental-Health-Angebote verbessern soll.

Frau Prof. Becker, was sehen Sie als die Herausforderung in Zeiten von Covid-19?

Alle Beteiligten müssen sich erst einmal an die neue Situation adaptieren, also anpassen. Gerade die Zeit der Schulschließungen hat zu einer großen Verunsicherung und familiären Belastung geführt. Auch der Zugang zu Jugendhilfemaßnahmen, zu Jugendämtern und Beratungsstellen war zeitweilig erschwert. Grundsätzlich ist vieles komplizierter geworden. Für manche Menschen kommt noch eine wirtschaftliche Belastung durch Kurzarbeit oder Arbeitsplatzverlust hinzu, was einen hohen psychischen Druck auslösen kann. Diese wirkt sich natürlich auch auf die ganze Familie inklusive der Kinder aus.

Was ist mit den Patienten, die schon vor der Pandemie psychisch erkrankt waren?

Klar ist, dass Menschen, die an einer chronisch psychiatrischen Krankheit leiden, in der Covid-19-Pandemie noch zusätzliche Herausforderungen zu bewältigen haben. Besonders tun sich zum Beispiel jene Kinder mit den Covid-19 Einschränkungen schwer, die schon vor der Pandemie mit Schulschwierigkeiten und Problemen im Sozialkontakt zu kämpfen hatten. Die Einführung von Homeschooling kann für sie eine erhöhte Belastung auslösen.

Oft hängt die Situation sehr davon ab, ob ein oder beide Elternteile zuhause sind, um das Kind zu unterstützen und ob die geforderte Hilfestellung in ausreichendem Umfang geleistet werden kann.

Was würden Sie jungen Menschen empfehlen, die merken, dass sich die Zeit zuhause für sie persönlich zur Belastung entwickelt?

Sie sollten sich an eine Vertrauensperson wenden. Das können die Eltern sein, aber auch zum Beispiel die beste Freundin oder die Mutter der besten Freundin. Möglich ist auch ein/e Vertrauenslehrer/in oder ein/e Jugendtrainer/in. Es ist wichtig, dass man nicht alleine ist mit seinen Problemen und sich traut Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Was würden Sie den Betroffenen dann in diesem Moment gerne ausrichten?

Sie sollten wissen, dass sie sich für ihr Problem nicht schämen müssen, gerade weil sich in Zeiten der Pandemie alle in einer schwierigen Situation befinden. Aktuell sind viele Menschen extrem verunsichert.

Woran liegt das hauptsächlich?

Speziell ist natürlich, dass niemand weiß, wie die Situation zum Beispiel in einem halben Jahr aussehen wird. Das hängt von vielen Faktoren ab, die man selbst schlicht nicht beeinflussen kann. An diese neuen Gegebenheiten muss man sich erst einmal gewöhnen. Zudem gibt es ja schon seit Monaten sehr viel negative mediale Berichterstattung. Dazu kommen noch diverse Verschwörungstheorien. Und all das kann gerade Jugendliche schon sehr verunsichern. Wichtig ist und bleibt, dass man sich trotz allem Hilfe holen kann – und auch wirklich holt.

Gerade in Zeiten von Kontaktbeschränkungen ist der Austausch mit anderen Menschen nicht immer einfach. Kann man auch im Internet Hilfe finden?

Manchmal ist das hilfreich. Es ist jedoch leider nicht immer eine gute Idee, im Internet nach Lösungen zu suchen. Denn das Netz ist auch voll mit falschen Informationen oder fehlinterpretierten Halbwahrheiten, die im schlimmsten Fall noch zusätzlichen Schaden anrichten können.

Professionelle Hilfe suchen sich junge Menschen wesentlich seltener als Erwachsene…

Das ist leider so. Wir als Klinik für Kinder und Jugendliche kümmern uns explizit um die jungen Menschen. Dabei behandeln wir natürlich nicht nur gezielt ein psychisches Problem, sondern beurteilen das Kind mit seinen Defiziten, aber auch Stärken im Kontext der familiären und sozialen Situation ganzheitlich – und finden für und mit der Familie Lösungen. Die Zurückhaltung der Jugendlichen beim Hilfesuchverhalten hat einige meiner Kolleginnen und Kollegen und mich auch dazu bewogen, eine wissenschaftliche Studie zum Thema durchzuführen.

Worum geht es in der Studie?

In dieser vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanzierten und an mehreren deutschen Studienzentren durchgeführten Studie geht es darum, das Hilfesuchverhalten von Schülern und Schülerinnen zu verbessern. Präventiv sollen im Falle von ersten Problemen, wie zum Beispiel übermäßigem Alkoholkonsum, Essstörungsproblemen und trauriger Stimmung, professionell und wissenschaftlich fundiert über das Internet Angebote gemacht werden.

Aber bei der Recherche im Internet, sehen sie offenbar große Gefahren. Warum?

Es ist teilweise erschreckend, welche persönlichen Dinge Jugendliche im Netz über sich offenbaren – ohne zu wissen, wer am anderen Ende sitzt.

Wie könnte man das verhindern?

Wichtig wäre, dass sogenannte E-Mental-Health-Angebote von wissenschaftlichen Expertinnen und Experten angeboten werden und diese ein Zertifikat aufweisen. Damit ist erkennbar, dass es sich um ein evidenzbasiertes und gutes Angebot handelt. Der Datenschutz muss zudem durchgehend gewährleistet sein.

Welche Art von Online-Angeboten für Jugendliche würden Sie sich wünschen?

Sie müssen in erster Linie niedrigschwellig sein, so dass Jugendliche sich erstmal vorab informieren können und nicht erst die Hürde überwinden müssen, sich irgendwo telefonisch zu bestimmten Sprechzeiten anmelden zu müssen. Im Idealfall machen die Jugendlichen mit ihrem Online-Gegenüber eine positive Erfahrung und können dort ihre Fragen stellen – und entscheiden sich letztlich für einen persönlichen Kontakt mit einer Institution, die Hilfe anbietet. Es geht hier also um erste Informationen, Abbau von Ängsten und Motivation sich helfen zu lassen. Das können Online-Angebote durchaus leisten.

Warum ist es im Jugendalter grundsätzlich so schwierig, passende Gesprächspartner zu finden?

Das liegt natürlich auch daran, dass im Jugendalter viele Entwicklungsaufgaben zu bewältigen sind, der Körper sich verändert, die Erwartungen in der Schule und am Ausbildungsplatz steigen und durch die Autonomieentwicklung Freunde wichtiger werden als Eltern und andere Erwachsene. Zudem fragen sich im jugendlichen Alter viele Menschen Dinge wie „Wer bin ich, auch im Vergleich zu anderen?“. Vielleicht hat man in diesem Alter eine erste Freundin oder einen ersten Freund. Auch das ist natürlich oftmals alles neu und nicht immer einfach. Es kann zu Verunsicherungen führen. In dieser Phase bekommen Eltern in der Regel wenig davon mit, was in ihrem Kind innerlich vorgeht. Wenn die Jugendlichen gute Freunde haben, an die sie sich wenden können, ist das ein stabilisierender Faktor. Ist das nicht der Fall, kann es eine große Belastung sein. Gerade deswegen, weil wir eben wissen, dass sie sich in diesem Alter weniger Hilfe in Hilfesystemen suchen.

Was ist das Wichtigste bei vorbildlichen Online-Hilfeportalen?

Jugendliche wollen Hilfe jetzt und sofort. Sie wollen nicht erst mit den Eltern sprechen und dann monatelang auf einen Termin warten. Wichtig ist, dass den Jugendlichen vermittelt wird, dass sie mit ihrem Problem, egal, um welches es sich handelt, nicht allein sind. Und dass sie Möglichkeiten haben, sich mit anderen, die vielleicht selbst betroffen sind, auszutauschen. Wenn man isoliert ist und keinen besten Freund oder keine beste Freundin hat, ist es wichtig, dass es Hilfsangebote gibt und Probleme mit Unterstützung gelöst werden können.

Relativiert die Tatsache, dass man mit einem Problem nicht allein ist eine Problematik?

Ein Risikofaktor sind grundsätzlich sogenannte isolierte Familien, in denen Freundschafts- und Verwandtschaftsverhältnisse nicht eng gepflegt werden. Andersherum formuliert: Es ist wichtig, dass man neben seiner Kernfamilie auch Freunde und andere Menschen hat, die einem wichtig sind, die einen in bestimmten Situationen ein bisschen erden, unterstützen und mit Rat und Tat zur Seite stehen.

 

Prof. Dr. Katja Becker, Klinikdirektorin Kinder- und JugendpsychiatrieIhre Expertin für kinder- und jugendpsychiatrische und -psychotherapeutische Hilfe für Kinder und Jugendliche:
Prof. Dr. Katja Becker
Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Marburg