Cochlea-Implantate: „Der Patient muss eine Fremdsprache lernen“

Cochlea-Implantate: „Der Patient muss eine Fremdsprache lernen“

Das sogenannte Cochlea-Implantat hilft schwerhörigen Menschen, ihr Sprachverstehen zurückzugewinnen. Am Universitätsklinikum Gießen und Marburg werden jährlich etwa 70 dieser kleinen Helfer implantiert. Dr. Stephan Ernst ist Leiter der Audiologie an der Klinik für
 Hals-Nasen-Ohrenheilkunde. Im Interview spricht er über die Unterschiede zwischen regulären Hörgeräten und Cochlea-Implantaten, die Kosten eines solchen Geräts und allgemeine Therpiemöglichkeiten bei einsetzender Schwerhörigkeit.

Herr Dr. Ernst, wann reden Sie als Mediziner von Schwerhörigkeit?
Dann, wenn betroffenen Patienten das Hören zunehmend schwerer fällt, wenn es für sie anstrengender wird. Oftmals sind im Anfangsstadium Gespräche zu zweit noch immer gut verständlich. In einer kleinen Gruppe wird es allerdings schon schwieriger, da muss man sich stärker konzentrieren, muss dem Gegenüber ins Gesicht schauen, weil man Lippen- und Mundbewegungen zum Verständnis braucht.

Was raten Sie Menschen, die feststellen, dass ihnen das Hören zunehmend schwerer fällt?
Man sollte zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt gehen und sich untersuchen lassen. Grundsätzlich ist es positiv, wenn man frühzeitig damit beginnt, ein Hörgerät zu nutzen. Dann nämlich verlernt das Gehör nicht, mit Signalen ordentlich umzugehen.

Ist „schwerhörig“ gleich „schwerhörig“, oder gibt es da Unterschiede?
Zunächst gibt es die sogenannte Schallleitungsschwerhörigkeit. Liegt sie vor, heißt das, dass das Signal im Innenohr, wo die Übersetzung für das Gehirn stattfindet, nicht in ausreichender Intensität ankommt. Oft liegt das an Hindernissen auf dem Weg zum Innenohr. Im einfachsten Fall ist der Gehörgang durch Ohrenschmalz verstopft. Manchmal ist allerdings auch das Trommelfell geschädigt, etwa durch eine chronische Mittelohrentzündung.

Im Fall eines geschädigten Ohres hilft ein reguläres Hörgerät…
Genau. Gerade frühe Hörverluste werden nach wie vor mit einem klassischen Hörgerät therapiert. Dieses kann man sich als Lautsprecher direkt im Ohr vorstellen, es verstärkt den Schall. Unterschieden werden kann in Geräte, die im Ohr, und solche, die hinter dem Ohr fixiert sind. Mittlerweile gibt es von beiden Sorten auch sehr kleine Bauformen, die angenehm zu tragen sind.

Und mit einem solchen Gerät ist allen Patienten geholfen?
Nicht allen. Immer dann, wenn wir mit einer solchen konventionellen Versorgung beim Patienten keine ausreichende Sprachverständlichkeit herstellen können und die genannte Schallleitungsschwerhörigkeit vorliegt, können implantierbare Hörgeräte sinnvoll sein.

Was genau kann ein solches implantierbares Hörgerät leisten?
Es ersetzt nicht das Hören, sondern versucht nur, es bestmöglich zu unterstützen. Und zwar indem es auf die akustischen Signale einwirkt, diese also verstärkt oder aufbereitet, den Schall lauter macht.

Wie kann man sich ein solches implantierbares Hörgerät vorstellen?
Es wird direkt an den Schädelknochen unter der Haut implantiert. Von außen unterscheidet es sich kaum von einem klassisches Hörgerät. Allerdings wird hier zum Beispiel der Schädelknochen durch Vibrationen angeregt, und über die Knochenleitung wird der Schall direkt an das Innenohr gegeben. Auf diese Weise lässt sich die Schallleitungsschwerhörigkeit überbrücken, die mit einem klassischen Hörgerät nur schwer oder gar nicht überbrückbar ist.

Welche Arten von Schwerhörigkeit gibt es noch?
Die Schallempfindungsschwerhörigkeit. Diese ist im Innenohr zu lokalisieren. In diesem Fall gelangen zwar Signale bis dorthin, werden hier allerdings nicht ausreichend für das Gehirn übersetzt.

Wie therapiert man hier?
Auch hier kann bei geringer oder mittelgradiger Schwerhörigkeit mit einem klassischen Hörgerät therapiert werden. Bei einer sehr ausgeprägten Beeinträchtigung oder bei einem Ausbleiben des Erfolgs mittels konventioneller Hörgeräte greifen wir dann auf das sogenannte Cochlea-Implantat zurück. Das ist kein implantierbares Hörgerät im klassischen Sinn, sondern es ersetzt das natürliche Hören durch elektrisches Hören.

Das müssen Sie genauer erklären! Was passiert da?
Bei klassischen implantierbaren Hörgeräten wird das normale Hören unterstützt, indem Außen- und Mittelohr umgangen werden, um das Innenohr direkt anzusprechen, das aus Schall elektrische Signale für das Gehirn macht. Dieses wird nun vom Cochlea-Implantat auch noch umgangen. Der verbaute Sprachprozessor nimmt den von außerhalb des Ohres kommenden Schall also auf und generiert über die Elektroden ein eigenes elektrisches Signal.

Worin unterscheidet es sich vom natürlichen Signal?
Es ist ganz anders als das, das unser natürliches Innenohr mit seinen 3500 Haarzellen generiert. Deswegen muss ein Patient, der Cochlea-Implantate nutzt, eine Art Fremdsprache erlernen. Wenn er das Gerät erstmalig einschaltet, nimmt er zwar Geräusche und Sprache akustisch wahr, versteht sie allerdings nicht. Das Signal ist dem Gehirn in dieser Form nicht bekannt. Dem Patienten fehlt also die Bedeutung.

Wie lange dauert es denn, bis man diese „Fremdsprache“ erlernt hat?
Das geht in der Regel recht schnell. Unser Gehirn hat diesbezüglich ganz erstaunliche Fähigkeiten. Im Gegensatz zum Originalsignal, das ein intaktes Ohr generiert, handelt es sich um eine recht simple Version. Nach wenigen Wochen kann man bereits Zahlen verstehen, nach einigen Monaten in der Regel erste Wörter, und nach einem Jahr dann fließende Sprache in einem natürlichen Umfeld.

Haben Cochlea-Implantate Nachteile?
Das Problem ist, dass der Patient mit ihrer Nutzung unter Umständen sein Restgehör verliert. Entscheiden wir uns also für die Implantation, müssen wir Ärzte uns sicher sein, dass der Teil des Gehörs, den wir ersetzen, nicht mehr ausreichend zu gebrauchen ist. Grundsätzlich versuchen wir, unsere Patienten zunächst mit einem konventionellen Hörgerät zu versorgen. Wenn sich allerdings zeigt, dass ein solches keine ausreichende Sprachverständlichkeit mehr gewährleisten kann, greifen wir auf Cochlea-Implantate zurück. Natürlich nur, wenn die Rahmenbedingungen beim Patienten stimmen.

Was sind denn diese Voraussetzungen, die man als Patient erfüllen muss, bevor man ein solches Cochlea-Implantat erhält?
Der Patient muss „geeignet“ sein, wie wir das nennen. Es müssen viele Voruntersuchungen gemacht und Beratungsgespräche geführt werden. Zum Beispiel ist vor einem solchen Eingriff wichtig zu wissen, ob das Innenohr und die Signalverarbeitung dahinter in Ordnung sind. Außerdem sollte der Patient natürlich in der Lage und auch willig sein, das Hören anschließend neu zu lernen. Insgesamt zieht sich der Prozess über Monate hin. Es wird also nichts spontan entschieden.

Welche Rolle haben Sie als Klinik neben der Implantierung?
Wir sind für die lebenslange Nachsorge verantwortlich, überprüfen also die Geräte regelmäßig, ob sie ordnungsgemäß funktionieren.

Wie viele Cochlea-Implantate haben sie schon eingesetzt?
Hier im Cochlear Implant Centrum Mittelhessen des Universitätsklinikum Gießen und Marburg setzen wir jährlich um die 70 von ihnen ein.

Wieviel kostet denn so ein Gerät?
Die Kosten für das Gerät, die Implantation und die Nachsorge übernimmt die gesetzliche Krankenkasse komplett, sofern der medizinische Eingriff notwendig ist. Cochlea-Implantate gelten nicht als „Hilfsmittel“, sondern eben als „Implantate“ und sind somit sogenannte „funktionsersetzende Medizinprodukte“. Auch die Kosten für die Batterien werden von der Kasse übernommen, beim regulären Hörgerät ist das ja nach wie vor anders. Übrigens übernimmt die gesetzliche Krankenkasse in Deutschland die Implantation in beide Ohren, weil medizinisch nachgewiesen werden konnte, dass sich für den Patienten ein deutlicher Gewinn an Lebensqualität erzielen lässt, wenn er auf beiden Seiten gut hört.

Und wie lange nutzt man solch ein Cochlea-Implantat dann?
Oftmals ein Leben lang. Manchmal wird es bereits Säuglingen innerhalb ihres ersten Lebensjahres implantiert, wenn diese taub geboren wurden. Im besten Fall kann das Kind dann sehr schnell ganz normal hören und in die Regelschule gehen. Voraussetzung ist, dass es früh versorgt wird, damit sich das Gehirn früh auf den neuen Reiz einstellen kann.

Welchen Ruf haben diese Cochlea-Implantate in der Medizin?
Der operative Eingriff funktioniert reibungslos, die Patienten gewinnen durch ihn ihr Sprachverstehen wieder zurück. Das ist für viele der Beginn eines neuen Lebensabschnittes.

Dr. Stephan Ernst Leiter Audiologie in der Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde am Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Standort GießenIhr Experte für Hörgeräte:
Dr. Stephan Ernst
Leiter Audiologie in der Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde am Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Standort Gießen