Warum das Neugeborenen-Hörscreening so wichtig ist

Warum das Neugeborenen-Hörscreening so wichtig ist

Den meisten Menschen ist im Alltag kaum bewusst, wie wichtig es ist, zu hören. „Hören ist die Voraussetzung für Sprache, Sprache für Bildung, und Bildung für Chancengleichheit!“, sagt Frau Prof. Dr. Christiane Hey, Chefärztin der Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie des Universitätsklinikum Gießen und Marburg am Standort Marburg und Hessische Landesärztin für Menschen mit Hör- und Sprachbehinderung.

Um eine normale Entwicklung des Hörens sicherzustellen, ist in Deutschland seit dem 01.01.2009 das Neugeborenen-Hörscreening gesetzlich verpflichtend. Kommt es hier zu Auffälligkeiten, ist das ein Fall für ihr Team, das sich auf die Versorgung schwerhöriger Kinder spezialisiert hat. Diese Einrichtung ist die größte ihrer Art in Mittel- und Nordhessen.

Wichtig ist, dass die Schwerhörigkeit eines Kindes früh diagnostiziert und die Versorgung frühzeitig begonnen werde, sagt die Spezialistin. Das Neugeborenen-Hörscreening erfolgt direkt bzw. ein bis zwei Tage nach der Geburt. Sind die Ergebnisse auffällig, können Christiane Hey und ihr Team „in nahezu allen Fällen helfen”, wie sie im Gespräch mit dem RHÖN-Gesundheitsblog sagt.

Wie läuft das Screening ab und was sind Risikofaktoren?

Der Ablauf ist weder unangenehm noch schmerzhaft. Und schnell durchgeführt. Voraussetzung: das Kind schläft. Das Neugeborenen-Hörscreening besteht aus einem zweistufigen Verfahren, einem kleinen und einem großen Test. Der kleine Test, die sogenannten TEOAE, testet direkt die Funktion des Innenohres und kann bei allen Kindern angewendet werden, die keine Risikofaktoren aufweisen. TEOAE ist ein Akronym aus den Begriffen: Transistorisch Evozierte Otoakustische Emissionen und bezeichnet vTöne, die das Innenohr selbst produziert. Wenn man das Ohr mit lauten Tönen reizt, dann antwortet es darauf selbst mit Tönen. Diese Aussendungen (Emissionen) kann man mit einem Mikrofon, das im Gehörgang platziert wird nachweisen.

Risikofaktoren für eine Schwerhörigkeit von Geburt an bilden zum Beispiel Frühgeburt vor der 32. Schwangerschaftswoche, Geburtsgewicht unter 1500 Gramm oder Infektionen des Säuglings rund um die Geburt.

In solchen Fällen wird die sogenannte Automatisierte Hirnstammaudiometrie (AABR) durchgeführt. Auch dieser Test ist nicht schmerzhaft und läuft beim schlafenden Kind ebenfalls sehr schnell ab. Geprüft wird hier, ob das komplette Hörsystem in Ordnung ist, oder eben nicht. Dazu werden auf die Stirn, den Nacken und den Wangenknochen kleine Elektroden aufgeklebt oder die Messung erfolgt über die im Screening-Gerät integrierten Elektroden. Es wird die Reaktion des Gehirns auf einen Sondenton gemessen. Ist diese Reaktion messbar, sind Mittelohr, Hörschnecke, Hörnerv und unterer Teil der Hörbahn funktionsfähig.

Was passiert, wenn ein Kind das Screening nicht „besteht“?

Wichtig ist: Bis zu diesem Punkt handelt es sich nur um ein Screening. Ein Screening ist kein endgültiger Hörtest, mit dem festgestellt werden kann, wie gut ein Kind hört bzw. wie schwerhörig es ist. Nach einem Screening lässt sich nur sagen: „nicht auffällig” oder „auffällig“?

Ist das Screening auffällig, ist es erforderlich und sehr wichtig, dass schnell ein endgültiger Hörtest durchgeführt wird. Und jetzt kommen mein Team und ich ins Spiel, also Experten, die sich auf schwerhörige Kinder spezialisiert haben. Wir führen jetzt den erforderlichen endgültigen Hörtest durch, mit dem wir exakt feststellen können, ob und wie ein Kind hört.

Was machen Sie mit einem Kind, bei dem Sie eine Schwerhörigkeit bestätigt haben?

Wenn das Hören nicht komplett beeinträchtigt ist, können wir bzw. Akustiker, mit denen wir eng zusammenarbeiten, Hörgeräte anpassen. Das geht bis zu einem Hörverlust von 75 bis 80 Dezibel. Normal hörende Menschen empfinden Geräusche zwischen einem Schallpegel von 40 Dezibel bis etwa 60 Dezibel als leise, normal und angenehm.  Die Hörschwelle des gesunden Menschen liegt bei etwa 0 bis 10 Dezibel. Ein normales Gespräch bewegt sich um die 65 dB. Bis zu 80 dB erreichen beispielsweise ein lautes Gespräch, eine Schreibmaschine oder ein vorbeifahrendes Auto. Im Bereich um 80 dB liegen etwa Rasenmäher. Ab 75 bis 80 Dezibel reicht ein Hörgerät nicht mehr aus. Bei Werten, die darüber liegen, spricht man von Gehörlosigkeit. In diesen Fällen versorgen wir dann mit einem sogenannten Cochlea-Implantat. Das ist eine Prothese, die die Funktion des Innenohres übernimmt. Das Innenohr ist nach wie vor das einzige Sinnesorgan, das sich mit Hilfe einer Prothese ersetzen lässt. Ganz wichtig ist natürlich die frühe Diagnose und die frühe Versorgung, und ohne eine geeignete Hörfrühförderung nutzt die beste Technik nichts.

 

„Eine Faustregel lautet: Diagnosestellung bis zum dritten Lebensmonat, Versorgung bis zum Ende des sechsten Lebensmonats. Im Gegensatz zu schwerhörigen Erwachsenen haben wir bei Kindern schlicht keine Zeit zu verlieren.“ sagt Frau Prof. Dr. Christiane Hey.

 

Warum muss so früh reagiert werden?

Da muss ich etwas ausholen: Der Mensch beginnt normalerweise schon in der 19. Schwangerschaftswoche zu hören. Er lernt dann auch schon, das Gehörte zu assoziieren. So kann ein Neugeborenes schon Frauen- und Männerstimme unterscheiden und sogar die Mutter alleine an ihrer Stimme von anderen Frauenstimmen unterscheiden. Studien belegen darüber hinaus, dass das Neugeborene bereits die eigene Muttersprache von anderen Sprachen unterscheiden kann. All das spricht dafür, dass das ungeborene Kind bereits im Mutterleib lernt zu hören und sogar erste wichtige Schritte in der Sprachentwicklung unternimmt. Hören und Sprache sind uns also nicht einfach nur angeboren, sondern vor allem auch eine Lernleistung. Allerdings ist etwas zu diesem Zeitpunkt noch wenig ausgeprägt: die sogenannte Hörbahn, also die Verbindung vom Ohr zum Gehirn entwickelt sich erst nach der Geburt. Und zwar nur, wenn der Mensch akustische Reize wahrnimmt.

Bei Gehörlosen bleiben diese Reize aus?

Richtig. In diesem Fall wird das, was schon an Hörbahn vorhanden ist, nicht weiter ausgebaut. Im Gegenteil, es wird sogar abgebaut. Und das unwiederbringlich. Und deswegen geht es bei einer vorliegenden Schwerhörigkeit um eine möglichst schnelle Versorgung nach der Geburt. Danach haben wir nie wieder die Chance, das Kind zum Hören und in die Lautsprache zu bringen. Und das unterstreicht die Wichtigkeit des Neugeborenen-Hörscreenings. Die ersten 18 Lebensmonate bis hin zum dritten Lebensjahr bezeichnen wir als Hauptreifungsphase der Hörbahn. Diese Zeitspanne müssen wir als Ärzte, Audiologen, Akustiker und Hörgeschädigtenpädagogen nutzen.

Bei einem Erwachsenen, der normalhörend zur Welt gekommen ist und der später schwerhörig oder gar gehörlos wird, ist das anders, weil die angesprochene Hörbahn existiert und ihm auch nicht wieder weggenommen werden kann.

Kommt Schwerhörigkeit bei Kindern häufig vor?

Wir rechnen mit ein bis drei Kindern auf 1000 Geburten. 2017 hatten wir um die 61.000 Geburten in Hessen. Das heißt, wir reden von knapp 120 Kindern mit einer therapierelevanten Schwerhörigkeit beidseits. Nimmt man Kindern mit Risikofaktoren wie Frühgeburt oder einem niedrigen Geburtsgewicht, erhöht sich die Zahl der Fälle von eins bis drei auf 100 Lebendgeburten. Es gibt auch viele einseitig schwerhörige Kinder, aber hier haben wir kein verlässliches Zahlenmaterial vorliegen, was die Häufigkeit der betroffenen Patienten angeht.

Können Sie all jenen Eltern grundsätzlich Mut machen, die ein schwerhöriges Kind zur Welt gebracht haben?

Ja, definitiv. In den allermeisten Fällen können wir sehr gut helfen. Uns ist es gelungen, für fast jede Schwerhörigkeit eine gute Hörsystemversorgung anzubieten. Wichtige Voraussetzung ist, wie gesagt, dass das Kind früh den Weg zu uns findet.

 

Ihre Expertin für Phoniatrie und Pädaudiologie

Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. habil. Christiane Hey