Sylvia ist Physiotherapeutin am Campus Bad Neustadt, bis sie im Sommer nach einer unerwarteten Diagnose hier selbst zur Patientin wird. In einem persönlichen Erfahrungsbericht erzählt sie, wie es sich anfühlt, die Seiten zu wechseln.
Heute ist der 29. August 2021.
Ich sitze auf meinem Patientenbett in der Klinik und fühle mich fit und gesund, dabei habe ich zwei schwere Kopfoperationen hinter mir – die letzte vor fünf Tagen.
Ich bin unendlich froh und dankbar dafür, dass die Operationen so gut ausgegangen sind, zumal für mich als medizinisch geschulte Therapeutin vorher vieles sehr unsicher und ungewiss war.
Vielleicht interessieren Sie meine Erfahrungen? Dann nehme ich Sie mit auf „meine Reise“ von meiner Berufstätigkeit als Physiotherapeutin hin zur neurochirurgischen Patientin.
Seit Januar 1993 arbeite ich als Physiotherapeutin in der Neurologischen Klinik, die mit zum Campus in Bad Neustadt gehört. Ich bin überwiegend in der Frührehabilitation tätig und sehe jeden Tag viel Leid und Elend: Patienten, die z.B. durch einen Schlaganfall, eine Gehirnblutung oder ein Schädel-Hirn-Trauma aus ihrem normalen Leben gerissen wurden oder bei denen eine andere chronischen Erkrankung wie MS oder Parkinson diagnostiziert wurde, die sich im Laufe der Jahre verschlechtert hat. Trotz all diesen Leides ist unsere Klinik aber auch ein „Ort der Hoffnung“, denn viele Patienten machen durch die umfassenden Therapien und die gute ärztliche und pflegerische Betreuung große Fortschritte und werden wieder mobil und selbstständiger. Doch das ist häufig auch ein sehr „langer Weg“, der viel Geduld auf allen Seiten erfordert.
Nun zu meinem ganz persönlichen „Weg“
Vor 17 Jahren erlitt ich einen Hörsturz und eine darauffolgende Schwerhörigkeit auf beiden Ohren, die sich im Laufe der Jahre immer mehr verschlechterte. Als ich merkte, dass ich immer weniger von dem verstand und hörte, was mir andere Menschen mitteilten, kam ich zu der Erkenntnis, dass ich höchstwahrscheinlich Hörgeräte benötige. Und so vereinbarte ich einen Termin beim HNO Arzt, der verschiedene Tests machte, mir meine Schwerhörigkeit bestätigte und zur genaueren Diagnostik ein MRT zur Untersuchung der Hörnerven veranlasste.
Am 16. Juni 2021 war der MRT-Termin, der als „reiner Routinetermin“ galt, der mich aber ziemlich aus der Bahn warf, da als Zufallsbefund ein Gehirntumor, ein Meningeom, im Frontalhirnbereich, dem Stirnbereich, festgestellt wurde. Das Meningeom war laut Aussage des Radiologen bereits durch die Schädeldecke hindurchgewachsen und lag – das war mir von Anfang an klar – in einem sehr ungünstigen Bereich. Für mich als Therapeutin, die seit 28 Jahren neurologisch arbeitet, ein schrecklicher Befund.
Im Frontalhirnbereich sind die Kognition und die „Persönlichkeit“ eines Menschen, seine Fähigkeit, klar und strukturiert zu denken, seine Motivation, sein Eigenantrieb und seine Fähigkeit zur räumlichen und personenbezogenen Orientierung gespeichert. Bei einer „Störung“ in diesem Bereich, sei es durch einen Tumor, eine Gehirnblutung oder einen anderen Defekt, kann es zu verheerenden Ausfällen kommen.
Verzweifelt fragte ich mich selbst: Hatte ich denn zuvor keine Symptome bemerkt, die mich stutzig machten?
Nein, ich hatte zwar sehr häufig Kopfschmerzen. Aber da ich ohnehin oft darunter litt und auch „wetterfühlig“ bin, hatte mich das nicht weiter beunruhigt.
Ich musste unbedingt etwas unternehmen, das war mir klar, auch wenn die meisten Meningeome (85%) gutartig sind. Aber jeder Gehirntumor, egal ob gut- oder bösartig, ist potenziell gefährlich, denn er kann Gehirngewebe verdrängen und dadurch zu einer Symptomatik, eventuell auch zu epileptischen Anfällen, führen. Und außerdem wollte ich auch nicht mit so einem „Ding im Kopf“, auch wenn es sich eventuell nur langsam ausbreitete, weiterleben. Deshalb entschied ich mich dazu, mich am Campus neurochirurgisch beraten zu lassen. Neun Tage nach der Diagnosestellung hatte ich einen entsprechenden Termin dafür in der Neurochirurgie bekommen. Doch dann überschlugen sich einen Tag zuvor die Ereignisse: Auf der Autofahrt zu meiner Arbeitsstelle frühmorgens traten plötzlich erste Symptome auf: Parästhesien/Missempfindungen im Stirn- und Schläfenbereich, ein Druckgefühl auf der Nase und ein Flimmern am unteren Augenrand. Schlagartig wusste ich, dass ich so meiner Berufstätigkeit, die ich ja bis dahin noch ausübte, nicht mehr nachgehen konnte. Zu groß war die Gefahr, eventuell einen epileptischen Anfall zu erleiden mit entsprechenden Folgen für die Patienten, die mir anvertraut waren, oder für andere Verkehrsteilnehmer auf meiner Fahrt zur Arbeitsstelle.
Ich ließ mich krankschreiben und ging noch am selben Tag, nachdem ich meine Krankenhaustasche gepackt hatte, an den Campus, um die Symptomatik abklären zu lassen. Dort wurde ich neurologisch komplett durchgecheckt, stationär aufgenommen und nach einem ausführlichen Gespräch mit dem Chefarzt der Neurochirurgie, Herrn PD Dr. Waschke, am kommenden Tag entschied ich mich zur operativen Entfernung des Meningeoms am 8. Juli sowie zur Schädeldachplastik sechs Wochen später.
Minimal chirurgische Eingriffe waren das nicht – das war mir von Anfang an wegen meiner Berufstätigkeit in der Neurologie klar. Trotzdem erschreckten mich die Begriffe „Craniotomie“, „osteoklastische Trepanation“ und „Schädeldachplastik“. Hatte ich dies nicht unzählige Male bei meinen Patienten erlebt und gesehen? Und plötzlich war ich nicht mehr Therapeutin, sondern Patientin: Viele Fragen und Ängste gingen mir im Kopf herum.
Ja, es war möglich, dass etwas während der beiden Operationen, vor allem während der ersten Operation, schiefgehen konnte: Ich könnte mit 51 Jahren sterben oder – was mir persönlich noch viel schlimmer erschien – einen Frontalhirnschaden erleiden.
Was würde dann aus meiner Familie werden? Wie würden mein Mann und meine Kinder das verkraften, vor allem meine jüngste 15-jährige Tochter? Wie würde es mir selbst ergehen? Würde ich meine eigenen Angehörigen noch erkennen und meine eigene Situation wahrnehmen? Und was genau würde ich mir persönlich im Falle einer vielleicht irreversiblen Frontalhirnsymptomatik als Weiterbetreuung nach einer eventuellen Frührehabilitation wünschen, z.B. bezüglich der Unterbringung als Pflegebedürftige.
All diese Fragen klärte ich zunächst für mich persönlich und teilte sie dann 4 Tage vor dem ersten Operationstermin meiner Familie und Großfamilie mit.
Was war für mich persönlich dabei das Schwierigste? Letztendlich die Tatsache, dass ich meine 15-jährige Tochter offen und ehrlich miteinbezog, aufklärte und den Schmerz und die Angst in ihren Augen sowie die vielen Tränen mit ansehen musste:
„Mama, wenn du das überlebst, aber eine Gehirnschädigung erleidest, wirst du mich dann noch erkennen und wissen, wer ich bin?“ Ich habe versucht, ihr ehrlich zu antworten: „Corinna, ich weiß es wirklich nicht! Ich weiß nicht, wie viel Zugriffsmöglichkeiten Frontalhirn-geschädigte Patienten noch auf ihre Persönlichkeit und ihr Wissen haben? Ich weiß nur von den vielen Patienten, die ich mit einer solchen Problematik behandelt habe, dass sie in diesem Bereich sehr große Schwierigkeiten haben.“
Am 7. Juli 2021 ging ich mit sehr gemischten Gefühlen ins Krankenhaus: Eine Operation erschien mir die einzig sinnvolle Lösung zu sein, aber würde sie gut ausgehen? Wie würde ich mich nach der Narkose fühlen? Würde ich klar und strukturiert nach der Operation denken können? Könnte alles wieder gut werden? Und wer sich fragt, was mich in dieser so schwierigen Zeit gehalten und getragen hat, dem antworte ich:
Die Unterstützung durch meine Familie/ Großfamilie, die ehrliche und liebevolle Anteilnahme meiner Arbeitskollegen (Physiotherapeuten, die sich sehr gut in meine Situation hineinversetzen konnten) und vor allem mein Glaube an Gott – an jene „gute Macht“, der ich mein Leben und meine Gesundheit anvertrauen konnte.
Schnell kam der Operationstag, der 8. Juli 2021, und ich hatte das große Glück, dass ich die erste Patientin war, die an diesem Tag operiert wurde. Eine Beruhigungstablette hatte ich mir vor der Operation nicht geben lassen, da sie aus meinen Erfahrungen von vorangegangenen Operationen, die ich 5 bzw. 6 Jahre zuvor gehabt hatte, bei mir ohnehin nicht großartig wirken würde. Und so kam ich bei vollem Bewusstsein und mit entsprechend hohem Blutdruck im Narkosevorbereitungsraum an. Das Anästhesisten-Team kümmerte sich liebevoll um mich und um 7.45 h fiel ich in „tiefen Schlaf“, aus dem ich genau 4 Stunden später um 11.45 h auf der Intensivstation erwachte.
Ja, ich konnte klar denken!!! Das war das allerschönste Geschenk für mich! Ich wusste alles, so dass ich wenige Minuten später von der Intensivstation aus meinen Mann und anschließend die leitende Physiotherapeutin in meiner Klinik anrufen konnte. Ich glaube, die beiden sind „aus allen Wolken gefallen“. Damit hatten sie bestimmt nicht gerechnet. Und ich konnte alles bewegen, deutlich sprechen und hatte nur geringe Schmerzen –ein Geschenk der modernen Medizin und der Ärzte, die mich so gut und gewissenhaft operierten!
Natürlich war ich aber auch müde und so dämmerte ich die nächsten Stunden vor mich hin, bekam kurz mit, dass der Chefarzt der Neurochirurgie, der mich an diesem Tag operiert hatte, in einiger Entfernung vor meinem Bett stand und mit mir redete. An einige seiner Worte kann ich mich noch erinnern, aber vieles habe ich sicherlich auch vergessen.
Am Operationstag und die Nacht über blieb ich vorsorglich auf der Intensivstation, dann wurde ich am kommenden Tag nach einem Kontroll-CT auf die IG-Station – die Wachstation – verlegt. Und da es mir gut ging, konnte ich dort zum ersten Mal aufstehen und zur Toilette gehen, nachdem der Blasenkatheter entfernt worden war. Außerdem konnten diverse „Schläuche“ wie der arterielle und die beiden venösen Zugänge entfernt werden, nur der ZVK blieb noch für weitere zwei Tage.
Ja, und dann kam ich auf die Normalstation und dort wurde ich dann wieder so richtig fit und drehte täglich meine Runden: Als Physiotherapeutin darf man sich ja nicht hängenlassen, oder? Als dann auch noch der ZVK gezogen wurde, war mein Glück perfekt; und ich konnte sechs Tage nach der Operation entlassen werden. Zuhause erholte ich mich weiter und es ging mir von Tag zu Tag besser, bis dann ca. zweieinhalb Wochen vor der geplanten zweiten Operation/ der Schädeldachplastik ein „eigenartiger Rückfall“ eintrat: Plötzlich war ich häufiger müde, musste mich öfter hinlegen und schlief auf der Stelle ein. Kopfschmerzen und Schwindel kamen hinzu. Ich führte das auf meine teilweise stark schwankenden und sehr hohen Blutdruckwerte zurück und suchte deswegen auch einen Internisten auf, der mir aber nicht weiterhelfen konnte.
Na ja, einen Tag vor der zweiten Operation wurde den Neurochirurgen und mir dann anhand eines Kontroll-CTs klar, woran die plötzliche Veränderung meines Zustands lag: Ich hatte einen Erguss fast über die gesamte Hirnhälfte im Subduralraum.
Das führte dazu, dass am 24. August nicht nur die Schädeldachplastik, sondern auch ein zusätzliches Bohrloch sowie zwei Drainagen zum Abfließen des Ergusses gelegt werden mussten. Eine führte in den Subduralraum, die andere lag oberflächlicher zwischen Knochen/Sehnenplatte und Haut. Auch die zweite Operation, die ein Oberarzt und eine Stationsärztin gemeinsam ausführten und die zweidreiviertel Stunden dauerte, gelang sehr gut und nach zwei Tagen auf der Wachstation konnte ich nach Entfernung der Drainagen auf die Normalstation, auf der ich jetzt noch bin, verlegt werden. Morgen wird noch einmal ein Kontroll-CT gemacht werden und wenn das unauffällig ist, so werde ich dann sechs Tage nach dem zweiten Eingriff nach Hause entlassen und eine Woche später eine neurologische Reha in Bad Tabarz/Thüringen beginnen.
Vielleicht fragt sich mancher an dieser Stelle, warum ich meine Erlebnisse jetzt hier „aller Welt“ erzähle? Zum einen aus tiefer Dankbarkeit dem gesamten Neurochirurgen-Team am Campus in Bad Neustadt gegenüber: Das sind wirklich sehr kompetente und einfühlsame Ärzte, denen man sich anvertrauen kann. Und für mich persönlich sind sie aber auch „Künstler“, die sich wie ein Bildhauer überlegen, was die unauffälligste Schnittführung ist, die das ästhetisch bestmögliche Ergebnis für den jeweiligen Patienten hervorbringt: Ja, wenn meine Narben verheilt sind und die wenigen Haare, die ich „opfern“ musste, nachgewachsen sind, so bin ich mir sicher, dass die meisten Menschen es äußerlich nicht erkennen werden, was ich durchgemacht habe. Außerdem empfinde ich auch tiefe Dankbarkeit den Pflegeteams der verschiedenen Stationen gegenüber, die sehr hilfsbereit waren und von denen ich mich optimal betreut gefühlt habe. Auch das Essen und die Sauberkeit in der Klinik waren hervorragend.
Und die Therapien durch meine Arbeitskollegen, die waren optimal und haben mich wieder richtig fit gemacht. Ja, wir sind wirklich ein Super-Team, egal ob wir in der Neurologischen Klinik oder hier am Campus arbeiten.
Und dann habe ich diesen „Erfahrungsbericht“ vor allem aus Freude und tiefer Dankbarkeit gegenüber Gott, dieser „guten Macht“ in meinem Leben, verfasst, der mir ein „neues Leben“ geschenkt hat und der es uns hier in Deutschland ermöglicht, eine moderne Medizin zu nutzen, die es so wohl kaum in einem anderen Land dieser Welt gibt. Sind wir uns dessen bewusst?
Und so sage ich: ,,Danke!“ – ,,Danke für alles“ und für die wundervollen Menschen, denen ich in dieser schwierigen Zeit begegnen durfte!