Spuren der Pandemie: Zunahme von psychischen Störungen und Mediensucht bei Kindern und Jugendlichen

Spuren der Pandemie: Zunahme von psychischen Störungen und Mediensucht bei Kindern und Jugendlichen

Die Auswirkungen der Corona-Pandemie sind bekanntermaßen vielschichtig. Nicht nur eine Infektion mit dem Virus an sich hat viele Menschen in den vergangenen Jahren an ihre Grenzen gebracht, auch in der Psyche haben die Umstände rund um Lockdowns und Schulschließungen Spuren hinterlassen.

Welche Auswirkungen die vergangenen Jahre konkret auf Kinder und Jugendliche hatten und noch immer haben, beschäftigt Dr. Andrea Hüfner. Als Chefarztärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Gesundheits-Campus Klinikum Frankfurt (Oder) leitet sie ein Team, das sich zur Aufgabe gemacht hat, jungen Menschen mit vielschichtigen psychischen und sozialen Problemen zu helfen.

„Wir haben neben der Zunahme an medienbezogenen Störungen vor allem auch eine starke Zunahme an Essstörungen, Zwangsstörungen und Ängsten zu verzeichnen“, sagt Dr. Hüfner im Gespräch mit dem RHÖN-Gesundheitsblog und bezieht sich auf die Pandemie: „Ich spreche hier bei einem Teil der Fälle von einem Schweregrad an Störungsbildern, wie ich sie bis dato noch nicht erlebt habe.“

Untermauert wird diese Feststellung der Expertin unter anderem von einer Studie der Krankenkasse DAK, die 54 Prozent mehr Essstörungen, bis zu 23 Prozent mehr depressive Störungen, 24 Prozent mehr Angststörungen bei Mädchen, und bei Jungen im Altersbereich zwischen 15 und 17 Jahren 15 Prozent verstärktes Übergewicht festgestellt hat. Zudem sei bei jungen Männern in Zusammenhang mit der Pandemie häufig die sogenannte Gaming-Disorder aufgetreten, also eine Form von Medien-Abhängigkeit.

Deutliche Zunahme an psychischen Symptomen

„Grundsätzlich haben wir während der Pandemie eine deutliche Zunahme an psychischen Symptomen festgestellt“, sagt Dr. Hüfner: „Ich denke, dass viele dieser Probleme unter anderem auch mit den Schulschließungen zusammenhängen. Es hat sich gezeigt, dass gerade die Zunahme an depressiven Symptomen in direktem Zusammenhang mit den restriktiven Maßnahmen steht, wie auch eine europaweite Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung nahelegt. Sicher war diese Maßnahme in einigen Aspekten auch sehr sinnvoll, sie hat aber eben bei Kindern und Jugendlichen für deutliche negative Auswirkungen gesorgt.“

Gerade Personen aus sogenannten „bildungsfernen“ und „belasteten“ Familien, die oftmals auf engem Raum zusammenleben, seien während der Lockdowns besonders belastet gewesen, sagt Dr. Hüfner. „Eher gut funktionierende“ Familien hingegen, bei denen die Eltern vielleicht auch das Homeschooling ihrer Kinder aktiv begleitet haben, seien dagegen oftmals relativ gut durch die Pandemie gekommen.

Warum Maßnahmen wie Schulschließungen von vielen Experten kritisch gesehen werden, erklärt die Ärztin folgendermaßen: „Die sogenannte Entwicklungsaufgabe eines jungen Menschen ab einem Alter von 11 oder 12 lautet: „Raus in die Welt!“ Hier geht es darum, Freunde zu finden, sich außerhalb der eigenen Familie zu entwickeln, sich von den Eltern abzulösen und seine eigene Peer-Group zu finden, und später seinen Platz in der Welt. Und eben dieser Entwicklungsaufgabe konnten die Jugendlichen während der Schulschließungen und Ausgangssperren schlicht nicht nachkommen.“

Schwierigkeiten mit dem Homeschooling

Dazu seien Schwierigkeiten mit dem Homeschooling an sich aufgetreten. Gerade Kinder und Jugendliche mit bestehenden Schulschwierigkeiten oder schulischem Förderbedarf hätten die Aufgaben oft nicht geschafft und seien gescheitert, sagt Dr. Hüfner. Zudem seien die Ausgleich schaffenden schönen Aktivitäten weggefallen, wie Sportvereine, das Ausgehen mit Freunden, Kino, Geburtstage, oder das feiern des Abiturs. Übrig sei oft nur der Schulstress geblieben, und häufig Überforderung und Einsamkeit.

Ganz grundsätzlich werde der soziale Aspekt des In-die-Schule-Gehens häufig unterschätzt, glaubt die Chefärztin: „Es geht hier um das Entwickeln sozialer Kompetenzen über Austausch und Interaktion mit anderen, es geht ums Kontakte-Knüpfen und das Arbeiten im Team. In solchen Situationen werden Konflikte gelöst, Regeln akzeptiert und angewendet. Zudem lernen die Kinder und Jugendlichen, sich anzupassen, oder auch sich durchzusetzen. Auch Anregungen von anderen zu bekommen ist wichtig, und, ganz grundsätzlich, Spielen und Austausch: „Es sind sehr viele Ebenen des Kommunizierens und Lernens, die in einer Schule stattfinden“, sagt Dr. Hüfner.

Diese sozialen Komponenten hält sie für „mindestens so wichtig wie den reinen Wissenserwerb“, der etwa im Mathe- oder Deutschunterricht stattfindet: „Würden alle Kinder einzeln zuhause beschult werden, hätten wir vermutlich viele sozial eher inkompatible Menschen in unserer Gesellschaft. Die Entwicklung der genannten Social Skills, also unserer sozialen Fähigkeiten, ist sehr wichtig – und vor allem in Gruppen und durch sozialen Austausch möglich.“

Eine weitere Beobachtung der Expertin ist, dass die genannten Schulschließungen nicht für alle Schüler:innen automatisch negativ waren. Sozial ängstliche Kinder und Jugendliche hätten die Zeiten der Lockdowns manchmal sogar regelrecht genossen.
Ganz allgemein gesprochen haben derartige Personen Angst vor dem, was Hüfner die „prüfende Betrachtung durch Andere“ nennt: „Das sind oftmals Kinder und Jugendliche, die sehr schüchtern sind und ein geringes Selbstwertgefühl haben. Sie haben zum Beispiel Angst, vor die Klasse zu treten und einen Vortrag zu halten. Für solche Menschen waren die Schulschließungen erst mal entlastend, weil sie dem sozialen Stress, den sie in der Schule sonst erleben, eben plötzlich nicht mehr hatten.“

Folgerichtig haben Dr. Hüfner und ihr Team derartige Personen während der Pandemie weniger häufig in ihrer Klinik gesehen als noch zuvor. Als die Schulen wieder geöffnet worden sind, seien viele aus dieser Gruppe dem Unterricht allerdings weiter ferngeblieben. Den möglichen Grund beschreibt die Expertin so: „Die Schwelle dort wieder hinzugehen war nach der langen Zeit sehr groß. Und das Zuhausebleiben ist dann das, was wir „Vermeidung“ nennen, quasi die Kapitulation vor der Angst. Und diese hat längerfristig negative Folgen.“

Zunahme an Zwangs- und Essstörungen

Neben Patient:innen, die eine solche soziale Phobie entwickelt haben, haben Dr. Hüfner und ihr Team auch eine Zunahme an Zwangs- und Essstörungen festgestellt: „Wir haben uns das so erklärt, dass die Pandemie für uns Menschen grundsätzlich eine zutiefst nicht-kontrollierbare Situation war. Viele haben Ängste und Sorgen entwickelt: Angst vor Ansteckung, vor der Zukunft, unbestimmte Ängste, und so weiter. Und ein sich entwickelnden Zwang hat oft mit einer zugrundeliegenden Angst zutun“, sagt die Expertin.

Bei den Essstörungen hätten neben vermehrten Kontrollbedürfnissen vor allem die intensive Nutzung sozialer Medien die Eintrittspforte geöffnet. Viele Jugendliche hätten vermehrt Workouts gemacht, seien über entsprechende Algorithmen immer tiefer in die Welt der physischen Optimierung und Diäten abgeglitten – und letztlich in eine Essstörung geraten, die dann eine Eigendynamik entwickelt habe, wie die Expertin aus Erfahrung weiß.

Grundsätzlich gebe es bei vielen Betroffenen eine gewisse Vulnerabilität für eine seelische Krankheit, sei es genetisch bedingt, familiär oder bezogen auf bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, wie etwa bei Essstörungen. Es habe in Pandemie aber auch einige Patient:innen gegeben, die ohne die damit verbundenen Einschränkungen vermutlich nicht erkrankt wären, so Hüfner.

Ab wann professionelle Hilfe wichtig ist

Und wann nun weiß man als Elternteil oder selbst betroffene Person, dass man mit seinem Problem ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen sollte? „Wenn ich merke, meine aktuelle psychische Situation ist mehr als eine Befindlichkeit und mein Alltagsleben ist dadurch eingeschränkt, sollte Hilfe in Anspruch genommen werden“, sagt Dr. Hüfner. Viele Kinder und Jugendliche zum Beispiel würden es dann zum Beispiel nicht mehr schaffen, in die Schule zu gehen oder die Hausaufgaben zu erledigen, vernachlässigen eigene Interessen, ziehen sich stark zurück, haben altersuntypisch starke Ängste und deutliche Zwänge, sind dauerhaft traurig, oder entwickeln Suizidgedanken.

Ein großes Problem seien auch Essstörungen, sagt die Expertin: „Wenn das Gewicht rapide in den Keller geht, ist das ein Alarmsignal!“. Es müsse allerdings nicht jeder gleich ins Krankenhaus, sagt Dr. Hüfner, ein Großteil der Behandlungen könne ambulant bei niedergelassenen Psychotherapeut:innen oder Kinder- und Jugendpsychiater:innen stattfinden: „Oftmals könnten auch Medikamente, wie etwa Antidepressiva, eine Psychotherapie unterstützen.“

Nur wenn das alles nicht fruchte, die Symptome so stark belastend oder deutlich alltagsrelevant einschränkend seien, die betroffene Person zum Beispiel aus Angst gar nicht mehr aus dem Haus gehe oder starke  Suizidgedanken entwickele, sei eine teilstationäre oder stationäre Behandlung wichtig, sagt Hüfner.

Multimodales Behandlungsprogramm in der Klinik

Beides bietet die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an, die sie als Chefärztin leitet. Im Gespräch mit dem RHÖN-Gesundheitsblog spricht sie auch von ihrem sogenannten multimodalen Behandlungsprogramm. Gestützt wird es von einem multiprofessionellen Team bestehend aus  Ärztinnen und Ärzten, Psychologen, Psychotherapeutinnen, Sozialarbeitern, Kunsttherapeutinnen, Ergotherapeuten, Musiktherapeutinnen und Bewegungstherapeuten, Erzieherinnen und Pflegekräften.

Es stehen psychotherapeutische Einzel- und Gruppentherapien, Kunst- Musik-, Ergo-, Bewegungstherapie auf dem täglichen Therapieplan der Stationen oder der Tagesklinik, sowie Entspannung, Yoga oder Spielezeit. „Und wir haben einen Klinikunterricht, weil die Kinder ja während des Aufenthalts hier bei uns den regulären Schulunterricht verpassen“, sagt Dr. Hüfner.

„Diese sehr unterschiedlichen Blickwinkel unseres Teams auf unsere Patient:innen und deren Familien sind ein wesentlicher Bestandteil unseres Behandlungskonzepts. Gemeinsam suchen wir individuelle Wege aus der Krankheit in eine möglichst gesunde Zukunft.“

Ihre Expertin für psychische Symptome bei Kindern und Jugendlichen

Dr. med. Andrea Hüfner
Chefärztin
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
am Gesundheits-Campus Klinikum Frankfurt (Oder)